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Das Buch meiner Leben

Das Buch meiner Leben

Titel: Das Buch meiner Leben
Autoren: Alexander Heamon
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Lächeln (sie lächeln, aber es ist aufgesetzt), Babys (werden bei strengem Frost nicht dick eingewickelt), nasse Haare (sie gehen törichterweise mit nassen Haaren aus, riskieren eine tödliche Hirnhautentzündung), Kleidung (ihre Sachen gehen kaputt, sobald man sie ein paar Mal gewaschen hat) und so weiter und so fort. Meine Eltern waren natürlich nicht die Einzigen, die auf diese Unterschiede achteten. In der Anfangszeit bestand ihr soziales Leben weitgehend aus Begegnungen mit Leuten aus der alten Heimat, mit denen sie über die Andersartigkeiten in Kanada diskutierten. Einmal hörte ich einen Bekannten meiner Eltern einigermaßen fassungslos über die grundsätzlichen Unterschiede sprechen, die er aus der Beobachtung ableitete, dass wir unser Essen lange auf kleiner Flamme garen ( sarma, Kohlrouladen, sind ein gutes Beispiel), während sie das Essen kurz in siedend heißes Öl werfen. In unserer Neigung zu langsam zubereitetem Essen zeige sich unsere Liebe zum Essen, also auch zum Leben. Sie dagegen verstünden nichts von Lebenskunst, was auf den entscheidenden Unterschied hinweise – wir hätten eine Seele, sie nicht. Und selbst wenn diese Analyse der kanadischen Küche zutraf – dass sie friedliebende Leute waren und wir mitten in einem brutalen Krieg standen, der nun wahrlich nicht als Ausdruck von Lebensfreude bezeichnet werden konnte, schien den guten Mann nicht zu irritieren.
    Irgendwann hörten meine Eltern auf, sich derart intensiv mit den Unterschieden zu beschäftigen, und sei es nur, weil sie keine Beispiele mehr fanden. Vermutlich waren sie aber einfach integriert. Mit den Jahren war die Familie durch weitere Einwanderung und Eheschließungen und Nachwuchs immer größer geworden, neben den naturalisierten gehörten mittlerweile auch gebürtige Kanadier dazu. Und da wir einige von ihnen kennengelernt und geheiratet haben, ließ sich das Wir und sie im Grunde nicht mehr aufrechterhalten – die Klarheit und Bedeutung der Unterschiede setzte fehlenden Kontakt voraus und entsprach der wechselseitigen Distanz. Theorien über Kanadier konnte man nur aufstellen, wenn man mit ihnen nicht verkehrte, also einen abstrakten Idealkanadier vor sich sah, die genaue Gegenprojektion von sich. Sie waren das Gegenteil von uns, wir das Gegenteil von ihnen.
    Der Hauptgrund für diese spontane theoretische Unterscheidung war der Wunsch meiner Eltern, sich heimisch zu fühlen, der zu sein, der man ist, weil sich die anderen ebenfalls heimisch fühlen. In einer Situation, in der meine Eltern sich entwurzelt fühlten und minderwertig gegenüber den Kanadiern, die sich in Kanada nicht fremd fühlten, war das ständige Vergleichen eine Möglichkeit, sich mit ihnen – zumindest verbal – gleichzusetzen. Wir konnten uns gleichberechtigt fühlen, weil wir uns mit ihnen vergleichen konnten – auch wir hatten ein Zuhause. Unsere Lebensart war mindestens so gut wie die ihre, wenn nicht besser – man denke nur an unsere saure Sahne oder das langsame Köcheln von sarma. Ganz abgesehen davon, dass sie unsere Witze nicht verstanden und ihre Witze überhaupt nicht komisch waren.
    Die instinktive Selbstrechtfertigung meiner Eltern konnte aber nur eine kollektive sein, denn genau das hatten sie aus der alten Heimat mitgebracht, wo man seine soziale Legitimation durch Zugehörigkeit zu einem identifizierbaren Kollektiv bezog – einer größeren, wenn auch abstrakteren raja. Auch eine Alternative – sich beispielsweise als Professor zu definieren – stand ihnen nicht zur Verfügung, da ihre akademische Karriere in der Emigration zerbrochen war.
    Interessanterweise passt die Notwendigkeit kollektiver Selbstlegitimierung ganz hervorragend zum neoliberalen Multikulti-Traum, der Vorstellung von einem toleranten Zusammenleben mit vielen anderen. Zugehörigkeit setzt also Unterschiede voraus – solange wir wissen, wer wir sind und wer nicht, sind wir so gut wie sie. In einer multikulturellen Gesellschaft gibt es viele andere, was aber kein Problem sein sollte, solange diese anderen sich innerhalb ihrer kulturellen Welt bewegen und ihren Wurzeln treu bleiben. Es gibt keine Hierarchie der Kulturen, es sei denn, man misst sie an ihrer Toleranz, insofern westliche Demokratien allen anderen Gesellschaften natürlich haushoch überlegen sind. Und wo große Toleranz herrscht, kann Buntheit gefeiert und das exotische Speiseangebot, garniert mit unverfälschter Andersartigkeit, konsumiert werden (Willkommen in der Taco Hell!). Eine
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