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Das Buch meiner Leben

Das Buch meiner Leben

Titel: Das Buch meiner Leben
Autoren: Alexander Heamon
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schwer einzuordnen. Einheimische, aber auch Ausländer fragten sie oft: » Was sind Sie? « Kristina, tough und schlagfertig (sie hat als Kind einen Anschlag überlebt), stellte dann immer die Gegenfrage: » Warum wollen Sie das wissen? « Die Leute fragten natürlich, weil sie wissen wollten, woher sie kam, um daraus zu schließen, wie sie dachte, welche ethnische Gruppierung sie in Wahrheit vertrat, welche Ziele sie verfolgte. Als Mensch, als Frau war sie irrelevant für diese Leute, denn auch wenn sie gebildet war und ihren eigenen Kopf hatte, ihre ethnisch geprägte Denkweise würde sie nicht verleugnen können. Sie war sozusagen hoffnungslos in ihre Wurzeln verstrickt.
    Die Frage war natürlich rassistisch. Politisch sensiblere Ausländer reagierten auf Kristinas Gegenfrage zunächst verlegen, hakten aber nach kurzem Zögern nach, während die Einheimischen unbekümmert weiterfragten – solange sie ihre Volksgruppenzugehörigkeit nicht zu erkennen gab, konnte man nicht wissen, was sie dachte und wer sie überhaupt war. Am Ende sagte sie: » Ich bin Bosnierin « , was keine Volksgruppe bezeichnet, sondern eine ihrer beiden Staatsangehörigkeiten ist – eine äußerst unbefriedigende Antwort für die internationalen Administratoren, die mutig in bosnischen Amtsstuben und teuren Restaurants sitzen.
    Nach den Erfahrungen meiner Schwester bin ich oft geneigt, auf die Frage » Was sind Sie? « stolz zu antworten: » Schriftsteller. « Aber das passiert selten, denn es ist nicht nur prätentiös, sondern auch ungenau – als Schriftsteller empfinde ich mich nur, wenn ich schreibe. Ich sage also, ich sei kompliziert. Ich würde auch gern hinzufügen, dass ich im Grunde genommen ein Wirrwarr unbeantwortbarer Fragen bin, ein Haufen anderer.
    Ich könnte auch sagen, dass es für eine Antwort noch zu früh ist.

Sound and Vision
    In den frühen 1980ern war mein Vater eine Zeitlang in Zaire, um beim Aufbau der Stromversorgung in Kinshasa mitzuhelfen. Im Sommer 1982 kam er nach Sarajevo, um uns, meine Mutter, Kristina und mich, zu einem sechswöchigen Ferienaufenthalt in Zaire abzuholen. Höhepunkt sollte eine Safari sein. Ich war siebzehn, Kristina vier Jahre jünger. Da wir noch nie im Ausland gewesen waren, hatten wir schlaflose Nächte, in denen wir uns ausmalten, was wir alles erleben würden. Tagsüber verfolgte ich jedoch die Fernsehübertragungen von der Fußballweltmeisterschaft, und ohnehin hatte ich erklärt, dass ich vor dem Endspiel nirgendwo hingehen würde. Sobald Jugoslawien, wie üblich, schon früh ausgeschieden war, schlug ich mich begeistert auf die Seite der Italiener. Wenige Tage vor unserer Abreise jubelte ich den Azzurri zu, die im Endspiel Deutschland eindrucksvoll 3:1 schlugen.
    Und dann waren wir unterwegs nach Afrika. Der erste Zwischenstopp war in Rom, wo wir in eine Air-Zaire-Maschine nach Kinshasa umsteigen würden. In Fiumicino stellte sich heraus, dass die Verbindung ohne Angabe von Gründen bis auf weiteres gestrichen worden war. Mein Vater kümmerte sich um alles. Er sprach mit den Vertretern von Air Zaire, ließ unser Gepäck zurückkommen, zeigte den italienischen Grenzbeamten unsere Pässe. Ein überfüllter Zubringerbus brachte uns zu einem nahegelegenen Hotel, wo wir auf unseren Flug warten sollten.
    Kristina und ich wollten unbedingt herausfinden, was an diesem ganzen Getue um Auslandsreisen wirklich dran war. Was wir während der Busfahrt sahen, erschien uns nicht sonderlich beeindruckend. Nichtssagende Gebäude, mit italienischen Fahnen geschmückt, Schaufenster, ausstaffiert mit Fotos der Nationalmannschaft. Vater, schon immer ein großer Optimist, versprach, dass wir, sobald wir unser Hotelzimmer bezogen hatten, nach Rom fahren würden, eine halbe Stunde mit dem Zug entfernt. Er war unser Führer in dieser fremden Welt. Er sprach hartes, schlechtes Englisch mit den Flughafenangestellten, er fand den Zubringerbus, er tauschte Geld und entnahm es seinem kleinen Portemonnaie mit dem Selbstbewusstsein eines Mannes, dem fremde Währungen vertraut sind. Kristina und ich beobachteten stolz, wie er für die Hemons zwei Zimmer buchte. Er war eine auffällige Erscheinung in seinem blauen Hemd, er zwinkerte uns zu und schien alles im Griff zu haben.
    Doch plötzlich zeichneten sich dunkle Schweißflecken auf seinem Hemd ab, und erregt ging er in der Hotelhalle hin und her. Sein Portemonnaie war verschwunden. Er lief hinaus, um nachzusehen, ob er es vielleicht im Zubringerbus liegengelassen
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