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Das Buch meiner Leben

Das Buch meiner Leben

Titel: Das Buch meiner Leben
Autoren: Alexander Heamon
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liebenswürdige Amerikanerin erklärte mir einmal: » Es ist doch schön, aus einer anderen Kultur zu kommen « , so als wären die » anderen Kulturen « ein paradiesischer Archipel im Pazifik, lauter Wellness-Bäder, unverdorben und frei von den Problemen der Industriegesellschaften. Ich brachte es nicht übers Herz, ihr zu sagen, dass ich dummerweise, manchmal aber Gott sei Dank, ein komplizierter Mensch bin.
    4. Das bin ich
    Einwanderung führt auch zu einer Art Selbstverleugnung. In der Emigration bildet sich ein kompliziertes Verhältnis zur Vergangenheit heraus, zu dem Ich, das früher an einem anderen Ort lebte, wo die Eigenschaften, die uns ausmachten, nicht zur Disposition standen. Einwanderung ist eine ontologische Krise, weil man die Bedingungen des eigenen Seins unter immer neuen Bedingungen verhandeln muss. Der Einwanderer strebt mit Hilfe systematischer Nostalgie – hier ist meine Story! – nach narrativer Stabilität. Meine Eltern verglichen sich ständig zu ihrem Vorteil mit Kanadiern, eben weil sie sich minderwertig fühlten und ontologisch verunsichert waren. Für sie war es eine Möglichkeit, eine wahre Geschichte von sich zu erzählen, sich selbst oder jedem, der sie hören wollte.
    Und gleichzeitig wird das Ich durch die Einwanderung verwandelt – wer immer wir waren, wir sind jetzt gespalten zwischen dem Wir hier (beispielsweise in Kanada) und dem Wir dort (beispielsweise in Bosnien). Denn für das Wir-hier ist das Wir noch immer identisch mit dem älteren Wir, das nun mehrheitlich in Bosnien lebt. Wir können gar nicht anders, als uns aus der Perspektive des Wir dort zu betrachten. Aus Sicht ihrer Freunde in Sarajevo sind meine Eltern, trotz ihrer eifrigen Abgrenzungsbemühungen, zumindest partiell Kanadier, was ihnen natürlich nicht entgehen kann. Sie sind Kanadier geworden, und das sehen sie, weil sie Bosnier geblieben sind.
    Der unabwendbare Integrationsdruck geht Hand in Hand mit der Vision von einem Leben, das meine Eltern führen könnten, wenn sie tatsächlich Kanadier wären. Tagtäglich sehen sie, dass die Kanadier ein » normales Leben « führen, wie das in der Sprache der Emigranten heißt, ein Leben, das ihnen – trotz aller Integrationsversprechungen – letzten Endes verwehrt ist. Sie sind diesem Leben näher als die Bosnier in der alten Heimat, so dass sie sich tatsächlich vorstellen können, ein normales kanadisches Leben zu führen – meine Eltern können sich als die anderen imaginieren, weil sie so viel Zeit und Energie auf den Vergleich mit ihnen verwendet haben. Trotzdem werden sie nie zu ihnen gehören.
    Die beste theoretische Auseinandersetzung mit diesem Thema ist ein bosnischer Witz, der in der Übersetzung einiges verliert, aber doch seine (typische) Klarheit bewahrt:
    Der Bosnier Mujo ist nach Chicago ausgewandert. Er schreibt regelmäßig an Suljo, lädt ihn ein, aber Suljo will seine Freunde und sein kafana (ein Kaffeehaus oder Lokal, wo man stundenlang bei Kaffee oder einem Glas Wein sitzen kann) nicht im Stich lassen. Nach jahrelangen hartnäckigen Bemühungen Mujos willigt er schließlich ein und fliegt nach Amerika. Mujo erwartet ihn am Flughafen in einem riesigen Cadillac.
    » Wem gehört das Auto? «, fragt Suljo.
    » Mir natürlich « , sagt Mujo.
    » Ein toller Schlitten « , sagt Suljo. » Du hast es gut getroffen. «
    Sie steigen ein, fahren in die Stadt. Mujo sagt: » Siehst du das Gebäude dort drüben, hundert Stockwerke hoch? «
    » Ja « , sagt Suljo.
    » Das gehört mir. «
    » Schön «, sagt Suljo.
    » Und siehst du die Bank dort im Erdgeschoss? «
    » Ja. «
    » Das ist meine Bank. Wenn ich Geld brauche, geh ich einfach hin und nehme mir, was ich brauche. Und siehst du den Rolls-Royce davor? «
    » Ja. «
    » Der gehört mir. Ich habe viele Banken, und vor jeder steht ein Rolls. «
    » Gratuliere « , sagt Suljo. » Das ist sehr schön. «
    Sie fahren in Richtung Stadtrand, wo die Häuser große Rasengrundstücke haben und die Straßen mit alten Bäumen gesäumt sind. Mujo zeigt auf ein Haus, groß und weiß wie ein Krankenhaus.
    » Siehst du das Haus dort? Das ist mein Haus « , sagt Mujo. » Und siehst du den gigantischen Swimmingpool daneben? Das ist mein Pool, jeden Morgen schwimme ich darin. «
    Am Swimmingpool liegt eine attraktive, rassige Frau in der Sonne, ein Junge und ein Mädchen planschen im Wasser.
    » Siehst du die Frau? Das ist meine Frau. Und die wunderbaren Kinder sind meine Kinder. «
    » Sehr schön « , sagt Suljo. »
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