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Das Buch meiner Leben

Das Buch meiner Leben

Titel: Das Buch meiner Leben
Autoren: Alexander Heamon
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ein Becher mit einer Plörre auf Pflaumenbasis, die den Darm anregen sollte. Für Unterhaltungen war nie Zeit, denn wir mussten das grauenhafte Zeug rasch hinunterschlingen und dann anderen Hungrigen Platz machen. Einem hartnäckigen Gerücht zufolge wurde dem Essen regelmäßig Brom zugesetzt, das die Rekruten gefügig machen und Erektionen entgegenwirken sollte.
    Und das waren die guten Mahlzeiten. Wie sehnten wir uns danach, wenn wir in der sonnenverbrannten mazedonischen Ebene den heldenmütigen Kampf gegen fremde Invasoren übten. Zwischen heroischen Siegen löffelten wir undefinierbares Zeug aus dem Feldgeschirr oder mampften unsere Feldverpflegung – fade Kekse, uralte Thunfischkonserven, ungenießbare Trockenfrüchte. Ewig hungrig, erinnerte ich mich vor dem Einschlafen an das Essen zu Hause und malte mir aufwendige Menüs aus, Lammkeule oder gefüllte Teigtaschen oder Spinatquiche. Diese Fantasien machten mich noch hungriger und noch deprimierter.
    Abgesehen von der ständigen Schinderei, deren Ziel es war, richtige Männer aus uns zu machen, verstand sich die Armee als eine große Familie, eine auf Loyalität und Kameradschaft gegründete Männergemeinschaft, in der alles geteilt wurde. Tatsächlich haben wir nie etwas geteilt, höchstens die Fürze. Niemand hat die elterlichen Fresspakete mit anderen geteilt, und man ließ auch keine Nahrungsmittel in seinem Spind, den man nicht abschließen durfte – in der Jugoslawischen Volksarmee wurde schon jetzt das Plündern für künftige Kriege geübt. Wenn noch etwas übrig war, nachdem man sich den Bauch vollgeschlagen hatte, tauschte man es gegen saubere Socken und Hemden, gegen eine Extradusche oder gegen die Einteilung zum Wachdienst. Lebensmittel wurden nicht geteilt, weil das Überleben davon abhing. Ich konnte mir mühelos vorstellen, wie ich dem Feind heroisch entgegentrat, nur um eine Kugel in den Rücken zu bekommen und wegen der Thunfischdose in meiner Tasche zu sterben.
    Der Einzige, der bereitwillig seine Verpflegung mit uns teilte, war ein Junge in meiner Einheit, der sofort nach seiner Ankunft in Hungerstreik trat, weil er keinen Militärdienst leisten wollte. Die Offiziere ignorierten ihn, weil sie überzeugt waren, dass er bluffte. Doch er wurde immer schwächer, und alle begriffen, dass es ihm ernst war, dass er bis zum Äußersten gehen würde. Die Offiziere bildeten sich aber ein, ihn durchschaut zu haben, und ließen den hungernden, geschwächten Rekruten bei jedem Appell und zur anschließenden Mahlzeit antreten. Einige Kameraden mussten ihn beim Strammstehen stützen und ihn dann in den Speisesaal führen. Plötzlich hatte er viele Freunde, alle waren wild entschlossen, dafür zu sorgen, dass seine Zuteilung nicht zurückging. Seine Helfer prügelten sich um das gekochte Ei, um das Stück Brot oder einen Teller Bohnensuppe, während er mit geschlossenen Augen lächelte und das hagere Gesicht auf den Tisch legte. Vielleicht war er schon im Delirium, aber mir schien, als träumte er vom Essen daheim im Kreis der Familie. Ein paar Tage später war er verschwunden. Ich habe nie herausgefunden, was mit ihm passiert ist. Ich hoffe, er konnte nach Hause zurückkehren.
    Einige Monate nach Beginn meines Militärdienstes unternahmen meine Mutter und meine Schwester eine Zweitagesreise, um mich am Wochenende zu besuchen. Ich war zu der Zeit in Kićevo in Westmazedonien stationiert, machte dort eine Ausbildung als Lastwagenfahrer. Das Wetter hielt sich an die trostlose Wettervorhersage, das heißt, wir verbrachten zwei Tage in einem trostlosen Hotel. Meine Mutter hatte schwere Tüten voller Lebensmittel mitgebracht, ein wahres Festmahl – Kalbsschnitzel, gebratenes Hühnchen, mit Spinat gefüllte Teigtaschen und sogar einen Käsekuchen. Sie breitete ein Handtuch auf dem Bett aus, da es keinen Tisch gab, und ich aß direkt aus dem Einwickelpapier, das meiste mit den Fingern. Beim ersten Bissen von der Spinatpastete stiegen mir Tränen in die Augen, und ich schwor mir, die Besonderheit unserer Mahlzeiten im Familienkreis stets in Ehren zu halten. Natürlich brach ich mein Versprechen gelegentlich, aber in dem Moment, als sich der unnachahmliche Geschmack von Spinat und Eiern und Käse und Blätterteig in meinem Mund ausbreitete, stieg all die Liebe in mir auf, die ein Neunzehnjähriger empfinden konnte.
    Vor etwa hundert Jahren zogen meine Vorfahren väterlicherseits aus Galizien, der östlichsten Provinz der k. u. k. Monarchie, nach Bosnien, das kurz
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