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Das Buch meiner Leben

Das Buch meiner Leben

Titel: Das Buch meiner Leben
Autoren: Alexander Heamon
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Gründen nichts. Kristina und ich liefen sofort zu dem Plattenladen, in dem wir uns schon umgesehen hatten, legten unser Geld zusammen und kauften eine Kassette von David Bowies Low. Als wir ohne Schatz zurückkehrten, erklärte Mutter, dass wir abends einen gemeinsamen Spaziergang unternehmen würden. Ich habe noch immer lebhafte Erinnerungen an all die Gerüche, Klänge und Anblicke, die sich den Hemons boten, während sie fröhlich den Strand entlangschlenderten, als wären sie im Urlaub – die Eltern hielten Händchen wie ein Liebespaar, die Kinder schleckten Eis, das vom Familiengold bezahlt worden war. Trotz Katastrophe genossen die Hemons das Leben.
    Tags darauf erklärte Vater, dass wir nach Brüssel fliegen und abends die Maschine nach Kinshasa nehmen würden – der General war bestattet, Mobutu hatte die Flugzeuge wieder freigegeben. Als wir das Hotel verließen, warf er dem Rezeptionisten einen letzten hasserfüllten Blick zu, doch Kristina und ich waren traurig, dass wir abfuhren. Am Haus gegenüber hing eine große Fahne, blau wie das schweißfleckige Hemd meines Vaters, mit der Aufschrift » Grazie Azzurri «.
    Wir verbrachten einen Tag in Brüssel, bestaunten die Duty-free-Shops und die blitzsauberen Toiletten. Abends bestiegen wir tatsächlich das Flugzeug nach Afrika. Kristina und ich hingen an unserem Walkman und hörten Bowies wunderbares Album. Wir flogen entlang der Scheidelinie zwischen Nacht und Sonnenuntergang, hier völliges Dunkel, dort ein Horizont in spektakulären Flammen. In Ostia war etwas in uns erwacht, Low war der Soundtrack für dieses andere in uns. In dieser Nacht konnten wir nicht schlafen, immer wieder hörten wir die Kassette, bis die Batterien leer waren. » Don’t you wonder sometimes « , sang Bowie bis nach Kinshasa, » ’bout sound and vision? «

Mahlzeit!
    In den glücklichen Tagen meiner fast unbeschwerten Jugend kehrten meine Eltern gegen 15.45 Uhr von der Arbeit zurück. Um vier gab es Mittagessen. Im Radio kamen die Vier-Uhr-Nachrichten, in denen über globale Krisen, internationale Katastrophen und die tröstlichen Siege des Sozialismus berichtet wurde. Die Eltern fragten meine Schwester und mich, wie es in der Schule gewesen war. Nie durften wir schweigend essen, und schon gar nicht dabei lesen oder Fernsehen schauen. Bis zum Wetterbericht um 16.25 Uhr musste alles besprochen sein, und um halb fünf war die Mahlzeit zu Ende. Wir mussten unsere Teller leer essen und uns bei unserer Mutter bedanken. Anschließend gingen alle auf ihr Zimmer, um ein Nickerchen zu halten, danach gab es Kaffee und Kuchen, manchmal auch Streit.
    Meine Schwester und ich empfanden die Mahlzeiten als elterliches Herrschaftsinstrument. Regelmäßig beschwerten wir uns: die Suppe versalzen, die Erbsen öde, der Wetterbericht erstunken und erlogen, der Kuchen langweilig. Für uns Kinder bestand die ideale Mahlzeit aus ćevapi (gegrillte Hackfleischröllchen), Comics, lautstarker Musik, Fernsehen – und vor allem ohne Eltern und Wetterbericht.
    Im Oktober 1983, mit neunzehn, wurde ich eingezogen. Meinen Militärdienst leistete ich in Štip, einer Stadt in Ostmazedonien, in der es, neben der Kaserne, auch eine Kaugummifabrik gab. Die Ausbildung bestand aus endlosen Demütigungen, angefangen bei der Verpflegung. Vor den Mahlzeiten mussten wir auf dem Kasernenhof antreten – wo unser Hunger durch den heranwehenden Kaugummigeruch noch verstärkt wurde –, und dann marschierten wir in den Speisesaal, schoben unsere verdreckten Tabletts weiter, und jeder überlegte, wie er ein größeres Stück Brot vom allmächtigen und gnadenlosen Küchenpersonal ergattern konnte.
    Das Angebot war äußerst begrenzt, damit wir lernten, was Dienen bedeutete. Morgens gab es trocken Brot, ein Ei, ranzige Margarine, manchmal eine Scheibe klebrigen Kochschinken (wer schlau und fix war, was ich nicht war, konnte sie einem Muslim abhandeln), dazu gab es lauwarmen süßen Tee oder Magermilch in Plastikbechern, die seit Ewigkeiten nicht mehr richtig gespült worden waren. Zum Mittagessen gab es immer etwas, für das man einen Löffel benutzen musste. Dicke Bohnensuppe (unausstehlich), in der kleine Sprossen wie Maden schwammen, war sehr beliebt, weil sie die hungrigen Möchtegernheroen satt machte und endlose Furzwitze mit den entsprechenden Klangeffekten ermöglichte. Das Abendessen bestand aus aufbereiteten Resten vom Mittag, wenn es nicht einfach dasselbe war (irgendwann gab es neunmal hintereinander Erbsen), dazu
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