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Das Buch meiner Leben

Das Buch meiner Leben

Titel: Das Buch meiner Leben
Autoren: Alexander Heamon
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zuvor Teil des Habsburgischen Reichs geworden war. Sie brachten ein paar Bienenstöcke mit, einen Eisenpflug, viele Lieder sowie ein Rezept für Borschtsch, der auf dem Balkan bis dahin unbekannt war.
    Natürlich existierte dieses Rezept nicht in schriftlicher Form. Sie trugen es in sich, wie ein Lied, das man einmal gelernt hat. In den Sommern meiner Kindheit, die ich bei den Großeltern im ländlichen Nordwesten Bosniens verbrachte, begann ein Komitee von Tanten (meist singend) am frühen Morgen, diverse Gemüse vorzubereiten, darunter auch Rote Bete, und das Ganze dann in der heißen Küche unter großmütterlicher Aufsicht rücksichtslos zu kochen. Der Hemon’sche Borschtsch enthielt alles, was der Garten an Gemüse hergab – Zwiebeln, Kohl, Paprika, Bohnen, sogar Kartoffeln und mindestens ein Stück Fleisch (aus irgendeinem Grund aber nie Huhn), und durch die Bete wurde alles ununterscheidbar rot gefärbt. Ich habe festgestellt, dass niemand in meiner Familie genau weiß, was alles in den Borschtsch kommt, aber immerhin sind sich alle einig, dass die Suppe Rote Bete, Dill und Essig enthalten muss. Der jeweilige Anteil variiert je nach Koch oder Köchin, so wie ein Lied bei jedem Sänger anders klingt. Für die Hemons war auch immer klar, dass der Borschtsch mindestens eine mysteriöse Zutat enthielt (Karotten? Rüben? Erbsen?). Wie die Variante auch ausfallen mochte, der Borschtsch war nie schlecht. Die erfrischende Säure des Essigs, die bissfeste gewürfelte Rote Bete (die immer ganz zuletzt in den Topf kam), die verschiedenen Bestandteile, die bei jedem Löffelvoll einen etwas anderen Geschmack im Mund erzeugten – Borschtsch war immer spannend, nie langweilig.
    Noch heute sehe ich meine Großmutter, die erfahrene Borschtsch-Köchin, mit einem riesengroßen dampfenden Topf aus der Küche kommen, in den Hof hinaustreten, Schweißperlen tropfen ihr von der Stirn und in den Borschtsch, geben ihm das besondere Etwas. Sie stellte den Topf auf einen langen Holztisch, an dem die Hemons saßen, erwartungsvoll und vor Hunger ganz unruhig. Dann wurde die Suppe mit der Schöpfkelle ausgeteilt, wobei jeder mindestens ein Stückchen Fleisch bekam. Wir waren oft so viele, dass wir in Schichten aßen. In einem Sommer zählten meine Schwester und ich siebenundvierzig Personen am großelterlichen Tisch, meist Verwandte von uns, und da die Lautstärke des Hemon’schen Schmatzens dem kulinarischen Genuss entsprach, produzierte der Borschtsch an diesem Tag eine wahre Sinfonie.
    Die großelterliche Variante des Hemon’schen Mittagessens war schmackhaft, aber keine zeremonielle Angelegenheit. Die Mahlzeit sollte für all jene, die in der Hitze auf dem Feld gearbeitet hatten und anschließend, bis Sonnenuntergang, an ihre Arbeit zurückkehren würden, Kräftigung und Erholung sein. Was aufgetischt wurde, musste also einfach und sättigend sein, und Borschtsch war die perfekte Lösung. Wie alle traditionellen Gerichte in meiner Familie – wareniki (Piroggen) oder steranka, in Milch gekochte Teigstückchen (mein Vater bekommt schon feuchte Augen, wenn man nur das Wort erwähnt) – ist Borschtsch ein Armeleuteessen. Es soll nicht mit kulinarischer Raffinesse betören, sondern das Überleben garantieren. Alles, was mit dem Löffel gegessen wird, steht ziemlich weit oben in der Pyramide der Überlebensmittel, die das Fundament unserer Küche waren, und Borschtsch ist das denkbar schmackhafteste Löffelgericht. (Was an Sushi so besonders sein soll, wird uns Hemons ewig ein Rätsel sein.) Borschtsch muss in einem großen Topf zubereitet werden, er muss viele satt machen, und er sollte für mehr als nur eine Mahlzeit reichen. (Ich kann mich nicht erinnern, dass es irgendwann keinen Borschtsch gegeben hätte – der Topf war wundersamerweise nie leer.) Borschtsch gehört zu den Gerichten, die am nächsten Tag grundsätzlich besser schmecken. Borschtsch ist definitiv keine Zwei-Personen-Angelegenheit; man trifft sich nicht mit einem Freund zu einem Teller Borschtsch, und Borschtsch ist auch nichts für ein romantisches Tête-à-tête, selbst wenn man es schaffen sollte, dabei nicht zu schmatzen. Zu Borschtsch passt kein Wein. Ein perfekter Borschtsch ist ein utopisches Essen: Idealerweise ist alles drin, er wird gemeinsam zubereitet und gegessen und kann eingefroren und immer wieder aufgewärmt werden. Ein perfekter Borschtsch ist so, wie das Leben sein sollte, aber nie ist.
    In meiner Chicagoer Anfangszeit habe ich in meiner
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