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Das Buch meiner Leben

Das Buch meiner Leben

Titel: Das Buch meiner Leben
Autoren: Alexander Heamon
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weniger Sorgen bereitete als die Aussicht, von Passanten mit rüden Zurufen gestört zu werden.
    Schließlich fanden wir einen Weg, unsere revolutionären Phantasien im Rahmen einer sozialistischen Jugendorganisation auszuagieren, die uns einen Raum zur Verfügung stellte, sich davon überzeugte, dass wir keine finanziellen Interessen verfolgten, und uns ermahnte, die Grenzen des öffentlichen Anstands zu beachten und die Werte der sozialistischen Gesellschaft zu respektieren. Einige Freunde machten mit (Guša, lebt heute in London, Goga in Philadelphia, Bucko in Sarajevo). Wir dekorierten den Raum mit zusammengenähten Bettlaken, auf die wir Parolen pinselten – etwa » Wir erschaffen die fünfte Dimension! « , ein Zitat aus einem Manifest russischer Futuristen. Es gab das Anarchistensymbol und das Friedenssymbol (eine Konzession an die Funktionäre des sozialistischen Jugendverbands) und schwarze Malewitsch-Kreuze, die wir jedoch übermalen mussten, da sie aus Sicht der ignoranten sozialistischen Hippies auf einen religiösen Inhalt verwiesen. Unsere Veranstaltung trug den lachhaft prätentiösen Namen » Club Nolens Volens « .
    Wir lehnten alles Prätentiöse ab, sahen darin eine Form von Selbsthass. Vor der Premiere diskutierten wir heftig, ob wir die Kulturelite von Sarajevo einladen sollten, diese hohlen Typen, die zu allen Eröffnungen kamen und ihre Kultiviertheit vor allem dadurch zum Ausdruck brachten, dass sie billige italienische Sachen trugen, die sie in Triest oder auf dem Schwarzmarkt gekauft hatten. Eine Idee war, sie einzuladen, aber überall Stacheldraht auszulegen, an dem sie sich ihre italienischen Klamotten ruinieren würden. Noch besser war die Idee, die Veranstaltung bei völliger Dunkelheit stattfinden zu lassen, nur ein paar herrenlose Hunde mit einer Taschenlampe am Kopf würden herumlaufen. Es wäre doch witzig, dachten wir, wenn sie nach den Gästen schnappen würden. Aber wir ahnten, dass das den sozialistischen Hippies nicht gefallen würde, denn sie mussten Vertreter der sozialistischen Elite einladen, um das Projekt zu rechtfertigen. Wir einigten uns darauf, neben der Elite auch ein paar Ganoven einzuladen, dann würde es möglicherweise zu Schlägereien kommen, und der eine oder andere würde sich eine blutige Nase holen.
    Aber nichts dergleichen passierte. Keine bissigen Hunde, keine Schlägerei, keine blutigen Nasen – am ersten Abend waren viele Leute da, die alle ganz ordentlich aussahen und sich gut benahmen. In der Folge fand an jedem Freitag eine Veranstaltung statt. Einmal gab es – mit betrunkenen Diskutanten und einem noch betrunkeneren Moderator – eine Podiumsdiskussion über Literatur und Alkoholismus. Ein andermal luden wir zwei Comiczeichner aus Serbien ein, über ihre Kunst zu sprechen und ihre Arbeiten zu zeigen. Einer der beiden betrank sich am Abend vor lauter Lampenfieber und schloss sich in der Toilette ein. Wir flehten ihn an, herauszukommen. Schließlich riss er sich zusammen, trat heraus, ging auf die Bühne und polterte in Richtung Publikum: » Leute, was ist los mit euch? Lasst euch nichts vormachen. Das ist Schwachsinn! « Das fanden wir toll. Ein andermal zeigten wir den Film Rani radovi ( » Frühe Werke « ), der in Jugoslawien verboten war, weil er von einem Vertreter der sogenannten » Schwarzen Welle « stammte, die in den 1960ern ein nicht so rosiges Bild vom Sozialismus zeichnete. Der Film war noch nie in Sarajevo gezeigt worden, aber da wir ihn unbedingt sehen wollten, trieben wir eine Kopie auf, organisierten einen Projektor und luden den Belgrader Regisseur ein, dem das Interesse einer Gruppe junger Enthusiasten schmeichelte. Der Film war stark von Godard beeinflusst – junge Leute, die über Müllhalden liefen und über Comics und Revolution diskutierten und sich dann mit Models amüsierten, diesen unsterblichen Symbolen kapitalistischer Entfremdung. Der Vorführer, der sonst mit Erotikfilmen zu tun hatte, zeigte die Rollen in falscher Reihenfolge. Niemand merkte etwas, nur der Regisseur, der schon leicht angetrunken war und sich freute, dass sein Film überhaupt gezeigt wurde. Wir organisierten einen Schallplattenabend mit Musik von John Cage, die erste (und womöglich einzige) in Sarajevo. Wir spielten seine Komposition für zwölf Radios und das berühmte » 4’33’’ « – eine Stille, die den Zuhörern die Gelegenheit bot, ihre eigene Musik zu hören. Das Publikum, das mittlerweile fast nur noch aus Vertretern der
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