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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie
Autoren: Jennifer Donnelly
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dort
war. Er hätte auch abhauen können.
    Â»Du bist zurückgekommen«, sage ich.
    Â»Nein.«
    Also war das auch nur ein Traum.
    Â»Ich bin nie weggegangen. Jetzt komm, steh auf.«
    Er hilft mir auf die Beine. Legt den Arm um meine Taille. Ich
lege den meinen um seinen Hals. Dann drehe ich mich um und werfe einen letzten
Blick zurück – in den Tunnel mit dem Wasserloch, in dem ich fast versunken
wäre. Er ist lang und dunkel, und an seinem Ende ist kein Licht. Eine Sekunde
lang nehme ich einen starken und intensiven Nelkengeruch wahr. Dann ist er weg.
    Â»Lass uns gehen«, sagt Virgil. »Raus hier.«
    Die ersten paar Schritte sind schmerzhaft. Schwer. Aber ich
blicke nicht mehr zurück.
    Â Â 87  
    Wir gehen. Lange. Wir können nicht denselben Weg zurück, weil
wir sonst durch den Strand gehen müssten, und dort ist immer noch die Polizei.
Wir haben sie gehört. Den Schein ihrer Taschenlampen gesehen.
    Wir gehen durch endlose Tunnel, an Knochen, Elektroleitungen
und Gruben vorbei, bis wir im Keller einer verlassenen Autofabrik herauskommen.
Südlich des Boulevard Périphérique. In Montrouge.
    Ãœber eine verrostete Eisentreppe steigen wir in die
Fabriketage hinauf. Hier sieht es aus wie in einem Horrorfilm. Undeutlich
zeichnen sich kaputte Maschinen ab. Ketten hängen von der Decke. Der Boden ist
mit Spritzen, Zigarettenkippen und Bierdosen übersät. Die Fenster sind alle
zerbrochen und mit Brettern vernagelt. Virgil findet ein loses Brett. Er
kriecht hinaus, hilft mir beim Durchsteigen, und wir befinden uns auf einer
alten Zufahrtsstraße mit Rissen im Asphalt und Schlaglöchern. Ein trüber
kleiner Bach, vermüllt mit weggeworfenen Autoreifen und Einkaufswagen, verläuft
parallel dazu. Wir folgen der Straße zur Vorderseite der Fabrik.
    Der Eingang ist verrammelt. Überall liegt Schutt und Abfall –
Betonbrocken, ein verrosteter Kühlschrank, ein alter Fernseher und der zerschlissene
Rücksitz eines Autos. Ich humple hinüber und lasse mich darauf nieder. Virgil
setzt sich neben mich. Ich fühle mich ein bisschen wacklig auf den Beinen, aber
das Schwindelgefühl ist weg. Die frische Luft ist kalt und tut mir gut. In der
Ferne kann ich die Lichter von Paris sehen.
    Virgil sieht auf seine Uhr.
    Â»Wie spät ist es?«, frage ich ihn.
    Â»Ein Uhr«, antwortet er und kramt in seinen Taschen. »Wo zum
Teufel ist mein Handy?«
    Ein Uhr. Was mir wie Tage vorkam, war gerade mal eine Stunde.
Ich weiß nicht, was mit mir geschehen ist. War es real? War es das Qwell? Die
Kopfverletzung? Das Einzige, was ich sicher weiß, ist, dass ich mich vor ein
paar Stunden am Eiffelturm befand und einen Aufzug nach oben nehmen wollte. Ich
wollte mich umbringen, weil ich meine Depression nicht mehr aushielt. Kann ich
es jetzt? Ich wünschte, ich wüsste es.
    Â»Ich habe Angst, Virgil«, sage ich plötzlich.
    Er hört auf, eine Nummer einzutippen, und senkt das Handy.
Wahrscheinlich fragt er mich jetzt: »Wovor?«, und versucht dann, mir die Angst
auszureden, die doch ganz unvernünftig sei. So machen es jedenfalls alle
anderen.
    Stattdessen sagt er: »Du wärst verrückt, wenn du keine
hättest.« Traurig lächelt er mich an. »Ich habe auch Angst. Jede Nacht habe ich
Angst in meinem beschissenen Viertel. Ich habe Angst, dass man mich
zusammenschlägt, wenn ich weggehe, und mich verprügelt, wenn ich wieder
zurückkomme. Ich habe Angst, mit meiner Musik nie erfolgreich zu sein. Ich habe
Angst, mein ganzes Leben lang Taxi fahren zu müssen. Ich habe Angst, dich nach
dieser Nacht nie mehr wiederzusehen.«
    Er tippt erneut eine Nummer ein und erreicht einen seiner
Taxifahrer-Freunde. Er nimmt meine Hand und drückt sie, während er spricht. Ich
habe Angst, den Druck zu erwidern, aber ich tue es. Ich sehe ihn von der Seite
an, höre zu, wie er dem Typen erklärt, wo wir sind, und ja, es sei eine lange
Geschichte, aber seine Freundin sei verletzt und müsse ins Krankenhaus. Ob er
kommen und uns holen könne? Dann bedankt er sich und legt auf.
    Wir bleiben noch eine Weile sitzen und halten Händchen. Er
beginnt leise zu singen. Er singt die Strophe eines Songs, den wir am
vergangenen Abend gespielt haben – My Friends .
    I heard a little girl
    And what she said was something beautiful
    To give your love no matter what
    Is what she said.
    Ich hebe mein Gesicht in den Nachthimmel.
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