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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie
Autoren: Jennifer Donnelly
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Es
ist immer noch dunkel. Aber ich kann die Sterne sehen.

Epilog
    Ein
Jahr später, im Winter.
    Â 
    Ich bin in einem Krankenhauszimmer. Sitze auf einem
Krankenhausbett. Spiele Gitarre.
    In der Ecke sitzt ein Mädchen am Boden. Sie hat mir den
Rücken zugekehrt und schaukelt hin und her.
    Ich habe fast zwei Stunden für sie gespielt, aber sie
reagiert nicht. Sondern wiegt sich nur weiter.
    Ihr Kopftuch verrutscht ein Stück und ich kann die Narben auf
ihrem Hals sehen. Sie erstrecken sich über ihren ganzen Rücken. Das hat mir die
zuständige Sozialarbeiterin gesagt.
    Sie ist Muslima, dieses Mädchen. Dreizehn Jahre alt. Sie
wurde in einem Park vor ihrem Haus angegriffen. Sie wurde geschlagen und
vergewaltigt. Das war vor zwei Monaten. Seitdem hat sie kaum gesprochen. Oder
gegessen. Oder sonst etwas getan außer hin und her zu schaukeln.
    Ich komme jeden Donnerstagabend her, weil die
Sozialarbeiterin sagte, dass sie Musik mag. »Spielen Sie sanfte Songs«, riet
sie mir.
    Wieder ist es fast Zeit für mich zu gehen – ohne dass ich
etwas erreicht hätte. Ich höre auf zu spielen. Aber sie hört mit dem Schaukeln
nicht auf.
    Plötzlich habe ich eine Idee. Schluss mit den sanften
Melodien. Ich werde etwas anderes versuchen. Shine On You Crazy Diamond .
Während ich spiele, höre ich sie – die Traurigkeit der vier Noten –, und sie
hört es auch, glaube ich, weil sie zu schaukeln aufhört. Sie dreht den Kopf,
dann dreht sie sich ganz zu mir um. Und ich kann ihre großen, traurigen, verängstigten
Augen sehen.
    Ich spiele weiter. Den ganzen Song. Ich wünschte, ich hätte
meine elektrische Gitarre dabei. Und David Gilmore. Aber das habe ich nicht.
Also tue ich, was ich kann.
    Ich beende den Song. Die letzten Noten verklingen. Wir sitzen
ein paar Minuten da, dann frage ich sie, ob sie möchte, dass ich nächste Woche
wiederkomme. Sie nickt. Und ich muss mich zusammenreißen, um nicht vor Freude
auf ihrem Bett herumzuhüpfen.
    Ich verabschiede mich, packe zusammen, verlasse das
Krankenhaus und komme mir vor, als hätte ich gerade eine Million Dollar
gewonnen. Es ist dunkel draußen. Und kalt. Ich bin spät dran, weil ich länger
geblieben bin, als ich eigentlich hätte bleiben sollen. Jetzt habe ich keine
Zeit mehr, heimzugehen und zu duschen. Und Hunger habe ich auch. Riesigen
sogar. Hoffentlich hat Rémy Gulasch heute Abend.
    Ich hänge den Gitarrenkoffer über die Schulter, steige aufs
Moped, fahre vom Parkplatz und reihe mich in den Verkehrsstrom ins Zentrum von
Paris ein. Ich bin in der Nähe des Invalidendoms und muss den ganzen Weg bis
zur Rue Oberkampf hinüber.
    Der Verkehr ist grauenvoll. Ein Lastwagen schneidet mich,
dann werde ich fast von einer Limosine überrollt. Das Moped war ein Geschenk
meiner Eltern zur Abschlussprüfung.
    Mein Vater ist immer noch in Cambridge. Er hat jetzt einen
neuen Sohn – Leroy. Er verbringt viel Zeit mit dem Baby. Mehr als er je mit mir
und Truman verbracht hat. Das sollte mich vielleicht verbittern, tut es aber
nicht. Irgendwie verblasst mein Dad immer mehr für mich. Das ist zwar traurig,
aber okay. Es ist schwierig für uns, zusammen zu sein. Das war schon immer so.
    Er ist momentan sehr beschäftigt damit, das Genom des Babys
zu entschlüsseln. Vielleicht hilft es ihm zu verstehen, wie dieses Kind tickt.
Mich hat er nie verstanden. »Die DNA verrät dir
alle Geheimnisse des Lebens«, pflegte er immer zu sagen. Nur ein Geheimnis
verrät sie einem nicht – wie man sein Leben leben muss.
    Ich fahre auf die Pont Neuf, ein Taxi hupt mich an, dann
überquere ich den Fluss. Die Seine ist wunderschön heute Abend mit all den
Lichtern, die sich im dunklen Wasser spiegeln.
    Meine Mutter ist wieder nach Paris zurückgezogen. Sie hat das
Haus in Brooklyn mit fast dem gesamten Inventar verkauft, nachdem sie letzten
Januar aus der Klinik kam. Wo sie fast jeden Quadratzentimeter ihres Zimmers
bemalt hatte. Eines Tages bekam ich einen Anruf. Sie war dran. »Kannst du kommen
und mich abholen, Andi?«, fragte sie. »Wenn ich jetzt nicht von hier fortkomme,
schaffe ich es nie mehr.«
    Auf dem Heimweg warf sie ihre Pillen aus dem Autofenster. Ich
hatte meine schon Wochen zuvor weggeworfen. Dann fragte sie, ob sie Musik hören
könne. Ich spielte ihr das Einzige vor, was ich im Wagen hatte – eine neue CD von Plaster Castle, eine mit weniger Effekten.
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