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Das Bienenmaedchen

Das Bienenmaedchen

Titel: Das Bienenmaedchen
Autoren: Rachel Hore
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junge Mädchen gewesen war.
    Lucy hatte die Mutter ihres Vaters sehr gemocht, aber die Besuche in der muffigen Londoner Mietwohnung während ihrer Kindheit waren manchmal auch eine Tortur gewesen. Es lag eine Atmosphäre schäbiger Pracht über den Räumen und die Erwartung, dass man ein perfektes Benehmen zeigte. Angelina Cardwell wollte, dass Lucy hübsch gekleidet war. Manchmal sträubte sie sich dagegen, was einen Streit zwischen ihren Eltern hervorrief. Ihre Mutter Gabriella meinte, dass jeder Mensch das anziehen durfte, was er mochte, während ihr Vater argumentierte, dass die beste Kleidung eine Form des Respekts darstellte und dass Granny Cardwell kleine Mädchen eben gern in hübschen Kleidern und anständigen Lederschuhen sah – und nicht in Jeans und Turnschuhen. Da Gabriella sich weigerte, ihren Mann und Lucy bei diesen Besuchen zu begleiten, trug Tom für gewöhnlich den Sieg davon. Als Lucy ins Teenageralter kam, fand sie allmählich Gefallen an der Herausforderung, Grannys hohen Ansprüchen zu genügen und zugleich ihr eigenes farbenfrohes Stilempfinden zufriedenzustellen. Granny hatte nichts gegen modische Kleidung, tatsächlich billigte sie sie eher.
    Zu dritt saßen sie dann in den viel zu dick gepolsterten Sesseln und tranken Tee, der von Grannys polnischer Zugehfrau serviert wurde, und plauderten darüber, wie sich Lucy in der Schule machte und ob es Granny, die sehr nervös war und stark unter Arthritis litt, gut genug ging, um mit ein paar Freunden eine Kreuzfahrt zu machen. Soweit sich Lucy erinnerte, war das nie der Fall gewesen.
    An einem Sonntagnachmittag, als Lucy in einer nachdenklichen Stimmung war, stöberte sie in dem Karton, den sie aus dem Arbeitszimmer ihres Vaters mitgenommen hatte. In Angelinas Keksdose fanden sich eine Locke von Toms Babyhaar, die in einem zusammengefalteten Taschentuch lag, eine Geburtstagskarte mit einer kindlichen Zeichnung, die er für sie gebastelt hatte, und ein Paar gestrickte Fäustlinge. Lucy steckte einen Finger hinein. Hatte ihr Vater wirklich einmal so winzige Hände gehabt, dass sie in diese Fäustlinge passten?
    Es gab einige Briefe und Postkarten, die er seinen Eltern aus der Schule oder aus den Ferien geschickt hatte. Und jede Menge Fotos: nur wenige Aufnahmen von Tom als Kleinkind, aber viele, auf denen er als Schuljunge und dann als Teenager zu sehen war. Ein Hochzeitsfoto von Angelinas Eltern und ein Bild von ihr selbst mit drei Jahren – auf dem Arm ihrer Mutter, mit dem großen grünen Teddy, den sie auf einem Rummelplatz gewonnen hatte. All das hatte ihre Großmutter in dieser Dose mit Andenken zusammengetragen. Es machte Lucy traurig und gleichzeitig glücklich, diese Dinge anzuschauen.
    Sie stellte die Dose zur Seite, um nachzusehen, was sonst noch in dem Karton war. Die Ausweispapiere ihres Vaters fand sie nicht – vermutlich hatte Helena diese Dinge behalten wollen –, aber sie förderte weitere Fotos aus früheren Zeiten zutage. Unter anderem entdeckte Lucy ein einziges Bild von ihrem Großvater Gerald als jungem Mann, bevor er verwundet worden war. Sie erinnerte sich nur schwach an ihn – ein beängstigend aussehender alter Gentleman mit einem narbenbedeckten Gesicht und einem Glasauge.
    Auf zahlreichen Bildern war ein elisabethanisches Haus mit hohen Schornsteinen zu sehen. Ein Schnappschuss zeigte ein elfenartiges Hausmädchen, dass in einem offenen Fenster ein Staubtuch ausschüttelte. Auf einem anderen spielten fünf Kinder Krocket auf dem Rasen: zwei Jungen, der eine dunkelhaarig, der andere blond – und beide älter als das Mädchen, das Granny war. Das jüngste Kind, ein mürrisches Mädchen mit einem viereckigen Gesicht, schielte in die Kamera und hielt seinen Krocketschläger wie ein Gewehr in die Höhe – das musste Großtante Hetty sein. Ein schlankes dunkelhaariges Mädchen hielt sich scheu im Hintergrund. Lucy hatte keine Ahnung, wer das sein konnte.
    Ihre Großmutter hatte manchmal über das Haus an der Südküste von Cornwall gesprochen, wo sie aufgewachsen war. Carlyon hatte sie es genannt – Carlyon Manor. Es sei nun fort, hatte sie gesagt. Lucy war sich nicht sicher, wie sie das zu verstehen hatte. Als Nächstes förderte Lucy eine Schwarz-Weiß-Postkarte von einer kleinen Küstenstadt – Saint Florian – zutage. Dort lag Carlyon, wie sie sich jetzt erinnerte.
    Sie wandte sich wieder der Fotografie mit den Kindern von Carlyon Manor zu. Es war traurig, an die Veränderungen zu denken, die der Lauf der Zeit
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