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Das Bienenmaedchen

Das Bienenmaedchen

Titel: Das Bienenmaedchen
Autoren: Rachel Hore
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erzwungen hatte. Grannys ältester Bruder Edward war tot, im Krieg gefallen. Großonkel Peter lebte noch, aber er wohnte in Manhattan und ließ wenig von sich hören. Großtante Hetty, eine ziemlich griesgrämige Frau, die Lucy nur bei wichtigen Familienanlässen gesehen hatte, lebte irgendwo in einem Pflegeheim und hatte sich zu schwach gefühlt, um an dem Begräbnis von Lucys Vater teilzunehmen.
    Bislang gab es nichts über Großonkel Rafe. Es hatte tatsächlich den Anschein, als sei er in der Familiengeschichte ausgelöscht worden. Was, um Himmels willen, hatte er getan? Lucy grub noch einmal in dem Karton und brachte ein Foto zum Vorschein, das in einer Ecke klemmte. Sie hätte es fast übersehen. Als sie es studierte, hatte sie das Gefühl, als blicke sie in das Gesicht eines Menschen, den sie einst, vor langer Zeit, gekannt, aber dann vergessen hatte.
    Konnte dieser junge Mann Rafe sein?

KAPITEL 3
    Die frisch gestrichene Fassade des »Mermaid Inn« am Kai in Saint Florian erinnerte Lucy an Schlagsahne. Auf dem glänzenden Schild räkelte sich eine Sirene mit Alabasterhaut in der Brandung. Lucy lächelte über ihren neckischen Blick und ging hinein.
    Der Empfangsbereich war leer, aber ein köstlicher Duft von brutzelnder Butter ließ vermuten, dass jemand in der Nähe war. Das »Ping« der Klingel rief eine junge Frau mit rundem Gesicht und einem struppigen Pferdeschwanz herbei, die sich mit einem Paket sauberer Wäsche durch den Dienstboteneingang schob, das sie neben der Rezeption ablud.
    »Tut mir leid, meine Liebe, dass ich Sie habe warten lassen«, sagte sie. »Alle sind heute spät dran mit den Lieferungen. Was kann ich für Sie tun?«
    »Haben Sie wohl ein Zimmer für mich? Ich habe nichts reserviert.«
    »Sie haben Glück«, erwiderte die Frau. »Heute Morgen hat jemand storniert.«
    Das Zimmer war erstaunlich preiswert, und das Mädchen führte Lucy mehrere Treppen hinauf. Es war nur ein enges kleines, L-förmiges Zimmer im Dachgeschoss mit Aussicht auf den Himmel, aber Lucy mochte die Gediegenheit des alten Gebäudes und den Duft von Lavendelpolitur. Nach einem Blick auf das winzige Duschbad und die kleine Kaffeemaschine war sie vollends zufrieden. Es war vielleicht ein bisschen beengt, aber für ein paar Nächte würde es sicherlich gehen.
    »Ach, ich glaube, ich muss Ihnen ein paar Sachen zum Waschen geben«, erklärte Lucy dem Mädchen. Sie hatte nur für die eine Woche Urlaub mit Will gepackt.
    »Kein Problem. Da im Kleiderschrank ist ein Beutel. Legen Sie ihn mir einfach raus. Ich bin übrigens Cara. Sagen Sie mir Bescheid, wenn sie noch etwas brauchen.«
    Als Cara gegangen war, griff Lucy nach der Fernbedienung für den Fernseher. Sie setzte sich im Schneidersitz auf das Bett und zappte mit abgeschaltetem Ton durch die Sender. Im Nachrichtenprogramm bewegten sich Soldaten in Panzern durch eine Felsenlandschaft. Nach einer Weile drückte sie die Austaste und ließ sich in die Kissen zurücksinken. Plötzlich fühlte sie sich erschöpft. Und all ihre Ängste stürmten auf sie ein.
    Warum hatte sie sich selbst hier ausgesetzt? Die Wirklichkeit holte sie allmählich ein. Was hatte sie sich bloß dabei gedacht? Sie hatte Will gekränkt – den sie ziemlich gerngehabt und der sie zu einem nicht unerfreulichen Urlaub mitgenommen hatte –, und nun hockte sie hier allein in einem Hotelzimmer, wahrscheinlich meilenweit entfernt von jeglichem öffentlichen Verkehrsmittel. Und aus welchem Grund genau?
    Als die Panik nachließ, zog sie eine Kunststoffmappe aus einem Fach ihres Koffers und nahm die Seiten zur Hand, die sie auf dem Laptop ihres Vaters ausgedruckt hatte. Auf der Suche nach Rafe hatte er das Imperial War Museum besucht und bestimmte Dokumente des Nationalarchivs durchgesehen. Außer Rafes Geburtstagsdatum, 1920, und den knappen Fakten zu seiner schulischen Ausbildung und seiner militärischen Laufbahn während des Krieges hatte er nicht viel herausgefunden – jedenfalls nichts Persönliches. Es gab allerdings etwas, das ihn mit Saint Florian verband: Die Schwester von Rafes Mutter hatte hier gelebt.
    In der Mappe befand sich auch ein Briefumschlag mit dem Foto, das sie ganz unten in dem Karton mit Grannys Sachen gefunden hatte. Es war das Porträt eines sehr jungen Mannes mit dichtem blondem Haar, das glatt nach hinten gekämmt war, und dessen funkelnde Augen einen fröhlichen Ausdruck hatten. Das Foto zeigte ihn, wie er sich über eine Steinmauer lehnte, den Kopf auf den Unterarm gestützt.
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