Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Exodus

Exodus

Titel: Exodus
Autoren: DJ Stalingrad
Vom Netzwerk:
Die
Sonne brennt. Der strahlende Himmel und das Wasser im Meer –
ein Chlorblau wie in der Kindheit. Wir steigen den Hügel hinauf,
zur Altstadt, dorthin, wo die antike Festungsmauer ihre Ringe gezogen
hat wie sich windende steinerne Drachen. Ringsum verfallene Häuser,
sie dürfen weder abgerissen noch restauriert werden, in den
meisten wohnen Zigeuner. Auch wir suchen ein neues Haus. Hinauf,
hinauf die kleine Kopfsteinpflasterstraße, fast bis ganz oben
sind wir gelaufen und haben eins gefunden.
    Ein
nicht zu großes, ordentliches, weiß gestrichenes
Landhaus, zwei Stockwerke, Weinreben, Veranda. Wir haben geprüft,
ob es Strom gibt, gibts, geprüft, ob es Wasser gibt, gibts auch,
Menschen nicht. Angekommen und gefunden.
    Ich
habe einen Sessel auf die Veranda gestellt. Hitze, im Hof ist
Dezember. Unten Ziegeldächer, ein Hafen, eine Bucht und
verschneite Berge am Horizont. Zwischen dem Kram im Haus fanden sich
Bücher in unbekannten Sprachen und ein leeres liniertes Heft. Da
schreibe ich rein. Ich wollte sehr lange nichts schreiben, jetzt will
ich. Ich brauche es. Ich bin entspannt und schreibe einfach Bilder
auf, eins nach dem anderen, wie sie in meiner Erinnerung auftauchen.
Sie haben die ganze Zeit in mir gelebt, mich belagert und gequält,
ich konnte an nichts anderes denken. Jetzt mache ich diese
Aufzeichnungen, und mit jeder Seite kann mich einer der Dämonen,
die dort hängengeblieben sind, die sich über meinem Kopf
verhakt haben, verlassen und für sich eine neue Form auf dem
Papier finden. Je länger ich schreibe, desto leichter wird mir,
all mein Leiden banne ich auf dieses Papier, und wie immer erduldet
es alles. Mir wird tatsächlich leichter, ich erinnere, um zu
vergessen.
    Shenja
und ich sitzen bei Freundinnen in einer Wohnung in Petrograd . Draußen
vor dem Fenster massenhaft Schnee, wir blasen Trübsal. Wir haben
unsere Heimatstadt verlassen, mit der uns so viel verbindet. Shenja
bekam am Ende Schwierigkeiten mit der Drogenpolizei, sie warteten vor
seiner Wohnung. Roma war ihn besuchen gekommen – sie fickten
ihn im Auto ordentlich durch, dann musste er nackt zwei Stunden lang
wie bekloppt Kniebeugen machen, damit das Heroin aus ihm rausrutscht.
Jetzt sind wir hier, ich hab ihm was gedrückt – Shenja ist
glücklich. Die Damen füllen uns ab, ich bin in der
Stimmung, über was Ernstes zu reden, Trübsal zu blasen. Ich
lege eine Platte mit Liedern von Wertinski auf.
    »Du
hättest schon früher den Wohnort wechseln sollen, Shenja.
Wärst du noch länger in Moskau geblieben, hätten sie
dich entweder eingelocht oder du wärst an einer Überdosis
gestorben.«
    »Weißt
du noch, wie ich damals in Petrosawodsk fast gestorben wäre?«
    »Ja,
am Krepieren warst du, beinahe hätten wir dich nicht gefunden.
Sind mit unseren Bussen durch die ganze Stadt gefahren, da seh ich,
wie du an der Ampel stehst, die Augen kippen dir weg. Ich hab
trotzdem nie verstanden, warum du damals fünfzehn Tropfen
genommen hast.«
    »Naja,
ich wollte es eben ausprobieren, es ist einfach so passiert.
Entschieden hatte ich das viel früher. Ich weiß nichts
mehr, nur noch, wie ich im Bus zu mir kam, du neben mir und alle
Jungs, und plötzlich bleibt mein Herz stehen. Stille. Ich hau
mir auf die Brust, mit aller Kraft, einmal, zweimal. Und es fängt
wieder an zu schlagen ... Präkordialer Faustschlag, Erste
Hilfe.«
    »Ein
ordentlicher Schlag in die Fresse – das ist Erste Hilfe. So
haben wir Leute auf der Arbeit oft zur Besinnung gebracht. Gläubige
Boxer nannten es Versuchung.«
    »Ich
weiß noch, wie ich Fedja frage, wo er die Narben über der
Braue herhat. Er sagt: ›Ich bin mal besoffen in eine
Schlägerei geraten, die haben mich bewusstlos gefickt. Ich kam
in die Alki-Trauma – die Unfallstation für
Unzurechnungsfähige. Es ist Nacht, ich komm auf einem Stahltisch
zu mir, als mir ein Kerl die Braue näht, grob wie einem Hund,
und auch noch direkt über meinem Gesicht raucht. Es tut weh, ich
bin besoffen, meine erste Reaktion – ich hau ihm eins in seine
beschissene Fresse. Was für Kerle da von allen Seiten angerannt
kamen, in weißen Kitteln, wie Kühlschränke. Die haben
mich dermaßen gefickt, verdammte Scheiße, und
rausgeschmissen in den Frost. Um fünf Uhr morgens, ich habs kaum
zur Metro geschafft, kapiere nichts, die ganze Kleidung voll
getrocknetem Blut, wie Holz. Kein Geld für ein Ticket. Die Alte
am Drehkreuz sagt: Geh durch, Söhnchen, wieder in der
Alki-Trauma ...‹ Massen solcher Geschichten hatte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher