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Das Bienenmaedchen

Das Bienenmaedchen

Titel: Das Bienenmaedchen
Autoren: Rachel Hore
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Zimmer um und fragte sich, von welchen Dingen sie sich sonst noch trennen sollte. Ihre Augen blieben schließlich an dem Computer hängen. »Ich möchte dir noch etwas zeigen, Lucy. Dein Vater hat irgendwas in der Familiengeschichte erforscht. Vielleicht interessiert es dich. Ich habe heute Morgen versucht, das Dokument auszudrucken, doch der elende Drucker hat nicht funktioniert.«
    »Ich probier’s mal, wenn du möchtest«, bot Lucy an, die neugierig geworden war. Sie setzte sich hin und schaltete den Computer an.
    »Ich habe sein Passwort auf Anhieb erraten«, erklärte Helena. »Es ist wasps .« Toms Lieblingsrugbymannschaft.
    Lucy tippte es lächelnd ein und sah zu, wie eine Reihe von Icons auf dem schwarzen und gelben Desktop erschien. Helena wies sie auf eine Datei hin, die »Cardwell« hieß. Eine Textseite öffnete sich. Lucy starrte auf die Überschrift. Es war der Name eines Mannes.
    »Wer ist Rafe Ashton?«, fragte sie.
    »Du hast nie von ihm gehört?«, entgegnete Helena stirnrunzelnd.
    »Nein.«
    »Dein Vater hat gesagt, er sei sein Onkel gewesen. Du musst von ihm gehört haben.«
    »Nein, bestimmt nicht«, beharrte Lucy. Großonkel Rafe? Der Name sagte ihr nichts.
    »Ich vermute, er war der jüngere Bruder deines Großvaters Gerald.«
    »Ich hatte keine Ahnung, dass er einen hatte. Warum hieß er dann nicht Rafe Cardwell?«
    »Er muss ein Halbbruder gewesen sein. Jedenfalls ist er im Krieg verschwunden oder so. Es ist alles ein bisschen verwirrend.«
    »Ich werde zu Hause mal einen Blick darauf werfen.«
    Lucy war verärgert, dass Helena mehr über ihre Familie zu wissen schien als sie selbst. Der Drucker erwachte klappernd zum Leben, und mehrere bedruckte Seiten glitten leise in die Ablage. Lucy steckte sie in den Karton, hob ihn auf und schaute sich im Zimmer ihres Vaters um – vielleicht zum letzten Mal.
    »Ich muss jetzt gehen«, sagte sie zu Helena. »Um acht soll ich bei einem Freund in London sein.«
    »Selbstverständlich«, entgegnete Helena, aber sie sah enttäuscht aus.
    Sobald Lucy wieder im Auto saß und nach Hause fuhr, vergaß sie Helena rasch. In Gedanken beschäftigte sie sich bereits mit dem Geheimnis von Großonkel Rafe.
    Lucy wohnte in einer winzigen Wohnung, bei deren Kauf ihr Vater geholfen hatte – nicht weit entfernt vom Kanal in Little Venice im Norden von London. Sie liebte es, auf dem Treidelpfad spazieren zu gehen und zuzuschauen, wie die Lastkähne hin- und herfuhren. Sie fand es schade, dass sie die Zeit verpasst hatte, als die Schiffe noch von Pferden gezogen wurden. Heutzutage beförderten die Kähne hauptsächlich Touristen. Im vorigen Jahr hatte sie eine Serie von Aufnahmen von der Gegend gemacht, die bei einer Ausstellung in einer Galerie in Camden recht guten Absatz gefunden hatten.
    Was ihre Arbeit betraf, fühlte sie sich ein bisschen wie an einem Scheideweg. Die Fotografie war ihr Hobby, aber vielleicht konnte sie ja auch mehr daraus machen. Sie mochte die kleine TV-Produktionsgesellschaft, bei der sie arbeitete, doch sie wünschte sich mehr Verantwortung. Delilah, ihre Chefin, hatte ihr Mut gemacht.
    »Die Leute fragen uns dauernd nach kurzen Dokumentarfilmen«, hatte sie gesagt. »Ernste Themen, das Leben von Frauen und so was. Bring mir ein paar Ideen.«
    Lucy hatte ihr das eine oder andere vorgeschlagen, doch bis jetzt hatte es noch nicht funktioniert.
    Mit siebenundzwanzig hatte Lucy noch keinen Mann gefunden, mit dem sie ihr Leben teilen wollte. Und da sie leidenschaftlich auf ihre Unabhängigkeit pochte, fragte sie sich, ob es ihn jemals geben würde. Will, den sie durch die Arbeit kennengelernt hatte, war der letzte in einer nicht sehr langen Reihe von Freunden.
    In den Wochen nach dem Besuch bei Helena stellte Lucy, wenn sie es ertragen konnte, hin und wieder einen der Kartons ihres Vaters auf den Tisch in ihrer Wohnung und nahm nacheinander die Schätze heraus. Mit seinen persönlichen Dingen – eine geschnitzte Holzkiste, die Manschettenknöpfe und Krawattennadeln enthielt, die LP-Cover von seinen Lieblings-Folkbands – hielt sie sich nicht auf und verstaute sie in einem Schrank in ihrem Schlafzimmer, sodass deren schmerzhafter Anblick ihr aus den Augen und aus dem Sinn kam. Mit dem Foto von ihrer Großmutter war es anders. Sie stellte es auf den Schreibtisch und ertappte sich häufig dabei, dass sie bei der Arbeit darauf blickte. Es war seltsam, sich vorzustellen, dass die alte, gebrechliche Frau, die sie gekannt hatte, einmal dieses wunderschöne
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