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Das befreite Wort

Das befreite Wort

Titel: Das befreite Wort
Autoren: Peter Sprong
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beobachteter Rekord: rund 250 Charts!) werden dann im aufwendigen Verfahren der Hinterwandprojektion auf Leinwände »gebeamt«, die in ihren Ausmaßen jedem Autokino zur Ehre gereichen würden. Gerne erscheinen die informationsbeladenen Charts nebst Balken, Typosalat und anderem Auflockerungsschnickschnack gleich zwei Mal – rechts und links – oberhalb des Redners am Kopfende der Kongresssäle in den Messehallen dieses Landes. Begründung: »Es sieht ja sonst keiner!«
    Was diese Technikaffinität in Wahrheit anrichtet, verrät meist das bewegte Bild zwischen den PowerPoint-Charts, denn dort sieht man – überlebensgroß – den Vortragenden selbst! Und man sieht ihn ganz genau; sieht an den kleinen, dank Höchstauflösung haarscharf zu erkennenden Schweißperlchen an der Oberlippe, wie er oder sie sich müht am Rednerpult. Und das Schlimme ist, auch die Rednerinnen und Redner haben das – bei anderen – schon gesehen. Mal ganz ehrlich: Wer gefällt sich schon so, wie er nun einmal ist? Also muss auch noch die Maske ran! Und tatsächlich, ob Parteitag oder Hauptversammlung – moderne Redner verschwinden vor dem Auftritt für ein paar Minuten hinter der Bühne zum »Nase pudern«. In Wahrheit wird dabei das ganze Gesicht bräunlich abgepudert, damit das Scheinwerferlicht nicht im feuchten Antlitz reflektiert. Das Ergebnis sind dann nicht selten »sonnengebräunte« Rednerinnen und Redner, die sich aufgrund dessen recht ähnlich sehen, gleichzeitig aber doch »profiliert«, »authentisch«, »unverwechselbar« und vor allem »glaubwürdig« sein wollen.
    Was die technikgetriebene Regie solcher Veranstaltungen vergisst, ist beispielsweise die Tatsache, dass die persönliche Ausstrahlung des Menschen unterhalb seines vielfach vergrößerten Konterfeis gar keine Chance auf natürliche Wirkung mehr hat. Der reale Mensch wirkt gegenüber seinem überdimensionalen Abbild klein und unbedeutend. Und der direkte persönliche Kontakt zwischen Rednern und Zuhörern geht auf diese Weise verloren. Etwas anderes kommt noch hinzu: Eine Person lässt sich nicht einfach medial vergrößern. Sie wirkt in der Vergrößerung nicht bedeutsamer. Eher schon ist das Gegenteil der Fall. Denn bewusst oder unbewusst verbinden die Zuschauer mit dem übergroßen Konterfei den Verdacht, dass sich hier jemand »künstlich aufbläst«. Sie erleben dann den Redner als »irgendwie unecht«, als »unredlich«, möglicherweise gar als »betrügerisch« oder auch »abgehoben«. Derartige Verdachtsmomente erreichen freilich die für die Inszenierung Verantwortlichen meist nicht. Sie führen stattdessen das scheinbar »zwingende« Argument der Sichtbarkeit des Redners an, und kaum je regt sich dagegen Widerspruch.
    Interessanterweise scheint auch in Vergessenheit geraten zu sein, dass die technischen Möglichkeiten der medialen Vergrößerung erst seit rund zwei Jahrzehnten existieren. Und niemand fragt sich: Wie ist eigentlich der Erfolg früherer Reden zu erklären, die gänzlich ohne diese Technik auskommen mussten? Etwas provokant, im Kern aber treffend ist dabei besonders der Hinweis auf die Bergpredigt: ein durchschlagender Redeerfolg, ganz ohne Rednerprojektion und PowerPoint …!
    Viertens schließlich: Die Rhetorik-Pose. »Machen Sie Apfelsinen-Hände. Da sind Sie immer auf der sicheren Seite, weil Sie endlich wissen, wohin mit den Händen.« Irgendwann einmal hat sich wohl auch Bundeskanzlerin Angela Merkel diesen Rat eines Rhetoriktrainers 12
› Hinweis
zu Herzen genommen. Seitdem berühren sich die Kuppen ihrer zehn Finger in Hüfthöhe, Daumen nach oben, so als würden sie eine unsichtbare Apfelsine umfassen. Wenn sie spricht, bewegt sich die Apfelsine – wohl eher ungewollt – im Rhythmus der gesprochenen Sätze sachte hinauf und hinunter. Von diesen Tricks gibt es viele: neue Atemtechnik, veränderte Gestik, kontrollierte Mimik, schwungvoller Gang, mutiger Blick – die Liste der einschlägigen Tipps ist lang und so alt wie das Geschäft des Redens selbst. 13
› Hinweis
Es werden Posen geübt. Manchmal sogar mit Erfolg, denn manch einer gefällt sich (und anderen) ja in der ein oder anderen Pose! Die meisten aber fühlen sich darin wie in einem schlecht sitzenden Anzug – und wirken auch so: deplaziert, unecht, dressiert. Sollen die so trainierten Menschen dann noch Texte sprechen, die mit markigen Sprüchen, mit rhetorischen Figuren und gewagten Metaphern durchsetzt sind, dann beschleicht die meisten Zuhörer und
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