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Das befreite Wort

Das befreite Wort

Titel: Das befreite Wort
Autoren: Peter Sprong
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Feindes so erdrückend ist, kann er die Schlacht mit halbherzig kämpfenden und demotivierten Soldaten nicht gewinnen. Und auch wenn er dadurch noch mehr Gefolgsleute verlieren sollte: Er will nur mit jenen kämpfen, die wirklich wollen!
    Das ist es, was er am Morgen der Schlacht seinem zweifelnden Vetter sagt und was zum stärksten Überzeugungsinstrument in seiner Rede an die Soldaten wird: Er stellt ihnen die Teilnahme frei! Mehr noch: Er bietet jenen, die Angst haben oder aus anderen Gründen gehen wollen, einen Pass und Geld an, damit sie sicher wieder nach Hause kommen. Er meint es wirklich ernst! Und vor allem: Er gibt den Soldaten das Gefühl der Kontrolle über ihre Situation zurück und befreit sie damit wirkungsvoll vom Angststress der Nacht.
    »Jedes Untertanen Pflicht gehört dem König,
jedes Untertanen Seele ist sein eigen.« 19
› Hinweis
    Allen hingegen, die sich zum Bleiben entschließen, bietet er die Teilhabe an einer Vision an:
    »Der heutge Tag heißt Crispianus’ Fest:
Der, so ihn überlebt und heim gelangt,
Wird auf dem Sprung stehn, nennt man diesen Tag,
Und sich beim Namen Crispianus rühren.
Wer heut am Leben bleibt und kommt zu Jahren,
Der gibt ein Fest am heilgen Abend jährlich
Und sagt: ›Auf morgen ist Sankt Krispian!‹
Streift dann den Ärmel auf, zeigt seine Narben
Und sagt: ›Am Krispinstag empfing ich die.‹
[…]
Und nie von heute bis zum Schluß der Welt
Wird Krispin-Krispian vorübergehn,
Daß man nicht uns dabei erwähnen sollte
Uns wenige, uns beglücktes Häuflein Brüder:
We few, we happy few, we band of brothers; Denn welcher heut sein Blut mit mir vergießt,
Der wird mein Bruder; sei er noch so niedrig,
Der heutge Tag wird adeln seinen Stand.
Und Edelleut in England, jetzt im Bett,
Verfluchen einst, daß sie nicht hier gewesen,
Und werden kleinlaut, wenn nur jemand spricht,
Der mit uns focht am Sankt Crispinustag.
[….]
Ist unser Mut bereit, so ist es alles.
All Things are ready, if our minds are so!« 20
› Hinweis
    Ein fast unglaublicher Sieg war das Ergebnis dieser Rede – nicht nur im Drama, sondern auch in der historischen Wirklichkeit: Am 25. Oktober 1415 schlug das englische Heer die Franzosen in der Schlacht von Azincourt mit nur geringen Verlusten in den eigenen Reihen, gegenüber vielen französischen Gefallenen und Gefangenen. Militärisch war Frankreich bezwungen; besiegelt wurde dies im Vertrag von Troyes, der durch die Heirat Heinrichs mit der französischen Prinzessin Katharina von Valois bekräftigt wurde.
    Ja, es stimmt: Dieser Sieg wurde auch durch Waffentechnik, insbesondere durch die Verwendung des sogenannten Langbogens 21
› Hinweis
, und durch taktische Entscheidungen errungen. Aber wäre er ohne die veränderte Einstellung der englischen Soldaten möglich gewesen – und ohne die Rede, die diese Änderung bewirkt hat?
    Und was hat das martialische, vaterländisch anmutende Heldenstück von Shakespeare mit dem alltäglichen Reden im Berufsleben des 21. Jahrhunderts zu tun?
    Erstens: Azincourt ist überall dort, wo es um den »Mythos Motivation« 22
› Hinweis
geht, wo also Menschen für einen Plan oder eine Handlung begeistert werden oder für eine Haltung gewonnen werden sollen, die sie selbst zum Zeitpunkt der Rede (noch) nicht einnehmen. Das kann im Parlament der Fall sein, wenn es um die Annahme oder Ablehnung eines umstrittenen Gesetzentwurfes geht. Es kann auf dem Parteitag der Fall sein, wenn es – wie 1999 bei Joschka Fischer und den Grünen – darum geht, einen Beschluss herbeizuführen, der zunächst noch keine Mehrheit hat. 23
› Hinweis
    Video der Rede Joschka Fischers zum Nato-Einsatz im Kosovokrieg im Blog zum Buch unter:
http://www.nicolai-verlag.de/das-befreite-wort-blog/?p=144
    Noch viel öfter aber ist es der Fall in Unternehmen, Verbänden und Organisationen aller Art, wenn es darum geht, das jeweilige Team oder auch die Gesamtheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu überzeugen: von einem neuen Kostensenkungsprogramm, von der Notwendigkeit und dem Nutzen einer Fusion, von gestiegenen Anforderungen an die Leistungsbereitschaft oder vom Wechsel zu einer neuen Teamkultur.
    Doch so oft, wie sich diese Rede- und Überzeugungsgelegenheit bietet, so oft lassen Rednerinnen und Redner sie auch ungenutzt verstreichen. Wichtigster Grund: Sie vertreten – bewusst oder unbewusst – eine Bestrafungspädagogik alten Stils, von der sie sich ein Höchstmaß an Effizienz versprechen, nach dem Motto: »If they can’t
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