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Das befreite Wort

Das befreite Wort

Titel: Das befreite Wort
Autoren: Peter Sprong
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der Aufruf zum ehrenamtlichen Engagement, die appellative Rede in der Fraktion oder die Ansprache von Jürgen Klinsmann an »seine« Nationalelf im Fußball-Märchensommer 2006: alles Situationen, in denen die Redner – bewusst oder unbewusst – auch auf Shakespeares Spuren wandeln.
    Denn hier wie dort ist die Lage »kritisch«, zumindest aber »angespannt«. Im Falle der englischen Truppen ist es der seit Monaten andauernde Kampf gegen die Franzosen, die sich als hartnäckiger Gegner erweisen. Sie scheinen fest entschlossen, sich ihr Land von Heinrich nicht streitig machen zu lassen. Dieser wiederum fühlt sich nach eingehender Rechtsberatung subjektiv im Recht und erhebt für die englische Krone Ansprüche auf den französischen Boden.
    Vor Azincourt schließlich kommt es in der beschriebenen Konstellation zum Showdown. Es sieht, schaut man sich die Fakten und die äußeren Umstände an, wahrlich nicht gut aus für die Engländer. Und Heinrich, als Oberbefehlshaber, macht sich auch keinerlei Illusionen über die Lage der Dinge. Er weiß, wie es um seine Truppe bestellt ist und um ihre Erfolgsaussichten. So ist er nicht gerade optimistisch gestimmt, als ein französischer Bote bei ihm eintrifft und ihm das folgende Angebot unterbreitet: Man lässt ihn und seine Soldaten unbehelligt gehen und erhält dafür neben einem beträchtlichen Lösegeld gleich auch noch die britische Krone. Die Alternative: Schon im Morgengrauen greifen rund 40.000 frische französische Soldaten das auf etwa 8.000 Mann geschrumpfte englische Heer an. Eine fünffache Übermacht! 16
› Hinweis
    Der noch junge König Heinrich V. leidet Höllenqualen: Soll er wirklich 8.000 Menschenleben aufs Spiel setzen? Dann aber schickt er den französischen Gesandten mit einer deutlichen Nachricht nach Hause:
    »Mein Heer nur eine matte, kranke Wacht […]
Wir suchen, wie wir sind, ein Treffen nicht,
Noch wollen wir es meiden, wie wir sind.« 17
› Hinweis
    Er weiß, mit dieser Botschaft wird es auf einen Kampf hinauslaufen. Und er weiß, dass er ihn eigentlich nicht gewinnen kann. In dieser Situation greift Shakespeares König zu einem Mittel, das über drei Jahrhunderte später von dem amerikanischen Managementberater Peter Drucker als »management by walking around« beschrieben werden wird: Er geht hinunter ins Lager und sucht die Nähe seiner Soldaten.
    »O, wer nun sehen mag
Den hohen Feldherrn der verlornen Schar
Von Wacht zu Wacht, von Zelt zu Zelte wandeln,
Der rufe: ›Preis und Ruhm sei seinem Haupt!‹
Denn er geht aus, besucht sein ganzes Heer,
Beut mit bescheidnem Lächeln guten Morgen
Und nennt sie Brüder, Freunde, Landesleute.
Auf seinem königlichen Antlitz ist
Kein Merkmal, welch ein furchtbar Heer ihn drängt,
Noch widmet er ein Tüttelchen von Farbe
Der schläfrigen und ganz durchwachten Nacht;
Nein, er sieht frisch und übermannt die Schwäche
Mit frohem Schein und holder Majestät,
Daß jeder Arme, bleich gehärmt zuvor,
Ihn sehend, Trost aus seinen Blicken schöpft;« 18
› Hinweis
    Allerdings hat der Besuch bei den Truppen zunächst nicht das gewünschte Ergebnis. Davon kann sich der König bei einem zweiten Besuch am Abend überzeugen. Um ein authentisches Bild der Stimmung zu erhalten, geht er diesmal inkognito – verkleidet. Er mischt sich unter die Soldaten, die an den Lagerfeuern sitzen, frieren und dem wahrscheinlich sicheren Tod am nächsten Morgen entgegensehen. Sie haben kaum ein gutes Wort für ihren König, halten die bevorstehende Schlacht für töricht und wollen nicht »auf dem Altar königlicher Eitelkeit« geopfert werden. Alle Versuche des verkleideten Königs, die Soldaten vom Gegenteil, insbesondere aber vom Mitgefühl des Herrschers und seiner Loyalität gegenüber der Truppe zu überzeugen, scheitern.
    Nach diesen Begegnungen ergeht es dem König schlecht. Es beginnt für ihn, was spätere Shakespeare-Interpreten »die dunkle Nacht der Seele« genannt haben. Angst und Schuldgefühl beherrschen Heinrich diese Nacht. Genau das aber macht sich bezahlt. Nachdem er sich für die Gefühle der Soldaten geöffnet hat und seine eigene Bedrängnis durchlitten hat, ist er wieder in der Lage, klar zu fassen, was nun noch in seiner Macht steht, welche Verantwortung und welche Handlungsmöglichkeiten er hat und vor allem: worin sein Standpunkt und sein Entschluss wurzeln, in welchen Werten und Überzeugungen.
    Heinrich weiß jetzt, was er tun, und auch, was er sagen muss. Er weiß: Eben weil die Überlegenheit des
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