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Das Auge der Fatima

Das Auge der Fatima

Titel: Das Auge der Fatima
Autoren: Franziska Wulf
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einfach, nicht hinzuhören und die Rasur zu genießen. Nicht etwa, dass er Schmeicheleien gegenüber unempfänglich war. Im Gegenteil. Er hörte sie, wie vermutlich jeder Mensch unter Allahs Sonne, sogar recht gern. Und an jedem anderen Tag hätte er den Eifer des jungen Barbiers mit einem Lächeln quittiert und ihn mit ein paar Anekdoten aus seinem Leben, zum Teil wahr, zum Teil erfunden, belohnt.
    N ur nicht heute. Heute war ihm seltsam zumute. Er wollte keine Worte über seinen Edelmut und seine außergewöhnlichen Taten, nichts von seinem ereignisreichen Leben hören. Er wollte nichts weiter als schweigen und dem gleichmäßigen Schaben des Rasiermessers lauschen.
    Während der Barbier weiterhin sein Glück pries, das Allah ihm durch die Anwesenheit des großen Arztes geschenkt hatte, versuchte Ali die Ursache für seine sonderbare Stimmung zu ergründen. Wann hatte es begonnen? Wann hatte ihn diese Schwermut befallen? Eine Niedergeschlagenheit, die ihn sogar dazu verleitet hatte, gegen seine Gewohnheit seine Pflichten zu vernachlässigen. Er hatte sein Haus, ohne dass die wartenden Patienten es bemerkt hatten, durch die Hintertür verlassen, um durch die Straßen von Qazwin zu schlendern und sich schließlich den geschickten Händen des jungen Barbiers anzuvertrauen.
    »Neigt Euren Kopf jetzt ein wenig zur Seite, Herr«, sagte der Barbier und führte ihn mit sanftem Druck in die gewünschte Richtung.
    Gehorsam hielt Ali seinen Kopf zur Seite geneigt. Von seiner jetzigen Position aus konnte er die in der Gasse vorbeieilenden Menschen beobachten. Der Barbier hatte sich für sein Geschäft keine besonders vornehme Gegend ausgesucht. Vermutlich besaß er nicht genügend Geld, um die wesentlich höheren Steuern in einem der besseren Viertel der Stadt bezahlen zu können. Wenigstens jetzt noch nicht. Denn der junge Barbier war außergewöhnlich geschickt. Das würde sich bald herumsprechen.
    Noch zwei bis drei Jahre, dachte Ali, dann wird sein Geschäft in der Nähe des Palastes liegen. Und falls ich mich dann immer noch in Qazwin aufhalten sollte, kann ich überall erzählen, dass ich einer seiner ersten Kunden gewesen bin.
    Aber das war unwahrscheinlich. In den Jahren, die seit seinem ersten Dienst als Leibarzt des Emirs von Buchara vergangen waren, hatte es Ali in keiner Stadt lange gelitten. Manchmal hatte man ihn zum Gehen aufgefordert, und einmal hatte er sogar Hals über Kopf fliehen müssen. Meistens jedoch war er aufgebrochen, bevor die Lage für ihn zu brenzlig geworden war. Seine Suche hatte ihn dabei immer weitergetrieben. Diese erfolglose, verzweifelte Suche nach etwas, von dem er selbst nicht sagen konnte, was es eigentlich war. Und er glaubte nicht wirklich daran, dass er »es«, was auch immer es sein mochte, ausgerechnet in Qazwin finden würde.
    Ali gähnte und betrachtete gelangweilt die Männer und Frauen, die draußen vorübergingen. Es waren einfach gekleidete Menschen, die mit ihrer Hände Arbeit ihr Brot verdienten. Sie waren Bauern, Handwerker, kleine Händler und Tagelöhner, die in geflochtenen Körben ihre Einkäufe - Brot, Gemüse, Obst und Fleisch - vom nahe gelegenen Marktplatz nach Hause trugen.
    Wieso, dachte Ali, wurde aus einem Menschen ein Emir, aus dem anderen ein Tagelöhner? Wieso aß der eine von goldenen Tellern, während der andere sein trockenes Brot mit Schweiß und Tränen würzte? Wer legte fest, in welcher Hülle welches Wesen, welcher Geist geboren wurde? War es Vorsehung? Der allmächtige Wille einer höheren Macht oder einfach nur Zufall? Wieso saß er hier in diesem Stuhl und ließ sich bedienen? Wieso gehörte nicht seine Seele in den Körper jenes Mannes, der draußen mit zwei Schläuchen über den Schultern vorbeiging und an die Vorbeieilenden Wasser verkaufte? Ali war fest davon überzeugt, dass er nichts getan hatte, um derartige Privilegien zu rechtfertigen. Wenn er seine Geburt in einem Haus eines sehr reichen Kaufmannes der Gnade eines Gottes zu verdanken hatte, so hatte er diese Gnade sicher nicht verdient.
    Während Ali darüber nachdachte, ob Aristoteles, Sokrates, Plato oder einer der anderen griechischen und römischen Philosophen die Antworten auf diese interessanten Fragen kannten, blieb eine Frau direkt vor der Tür des Barbiers stehen. Offensichtlich wollte sie nichts weiter als ihren Korb wieder zurechtrücken, der ihr vom Kopf zu rutschen drohte. Dabei wendete sie jedoch Ali ihr Gesicht zu. Und dieser Blick durchfuhr ihn wie ein glühendes Eisen,
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