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Das Amerikanische Hospital

Titel: Das Amerikanische Hospital
Autoren: Michael Kleeberg
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glauben, dass medizinische Notwendigkeit und Zärtlichkeit irgendwie zusammengingen, noch später, dass die Spritzen eine Art Symbol einer höheren Form der Zärtlichkeit, des Körperkontakts, der Liebe wären.
    Ich war stolz darauf, dass die Injektionen mir so gut gelangen. Ich musste mit der Nadel die Flüssigkeit der
einen Ampulle absaugen und im Pulver der anderen (beide Ampullen lagerten bis zu diesem Zeitpunkt im Kühlschrank) auflösen, dann schütteln, bis wiederum ein klarer Extrakt zustande kam. Dann zog ich die Spritze auf, stellte durch leichtes Klopfen sicher, dass sich alle Luftbläschen aufgelöst hatten, drückte sie so weit hoch, bis sich an der Spitze der Hohlnadel der Kopf eines Tropfens zeigte, hielt sie dann in Positur, versetzte der Stelle des Gesäßes, auf die ich zielte, einen Klaps und stach mit einer schnellen, geraden Bewegung die Nadel bis zum Anschlag in ihren Muskel, in den sie eindrang wie in Butter. Es war immer ein zugleich befriedigendes und leicht grauenerregendes Gefühl zu sehen und zu spüren, wie tief man in einen Körper eindringen konnte, ohne Verletzungen und Schmerzen zu verursachen. Es gelang mir fast immer, die Sache schmerzfrei zu bewerkstelligen, keine Blutgefäße zu treffen, Hämatome und nachfolgende Probleme beim Sitzen zu vermeiden. Am Ende einer IVF war Hélènes schöner Hintern dann von den kleinen roten Pünktchen der Einstiche übersät wie von Flohbissen und nichts anderes mehr für mich als der Teil ihres Körpers, an dem ich zum Erfolg unserer Bemühungen beitragen konnte.
    Ich war stolz darauf, dies so professionell zu beherrschen, denn ansonsten gab es für mich empörend wenig zu tun. Ich war ganz auf Hélène und Le Goff angewiesen, und nichts blieb mir, als die Hoffnung und die Moral aufrechtzuerhalten, für Hélènes Wohlbefinden zu sorgen und ihr Mut zuzusprechen, immer wieder Mut, Glaube, Hoffnung. Das wurde von Mal zu Mal schwieriger, vor allem nach dem Tod ihrer Großmutter. Und manchmal
hatte ich Zweifel an ihrem unbedingten Willen und Glauben, ärgerte ich mich über eine gewisse Tendenz zur Melancholie und zum Fatalismus, die ich an ihr wahrzunehmen glaubte, und reagierte ungeduldig und schroff.
    Ich hatte immer in der Überzeugung gelebt, dass ich die Dinge, die ich wirklich wollte, auch irgendwann bekommen würde, ganz gleich wie schwierig es sich gestalten oder wie lange es dauern mochte. Jetzt ertappte ich mich bei dem absurden Gedanken: Wenn ich dies hier allein zu verantworten hätte, dann würde es schon funktionieren.
    Alles hatte leicht begonnen mit dem Wunsch, die Fülle des Glücks nun noch ganz zu runden, leicht und naiv und entspannt, und hatte sich unter der Hand zum einzigen Plan, zum einzigen Ziel entwickelt, zu einem Gottesurteil, das über Wert oder Unwert unserer Liebe entschied. Hélène war von meiner Geliebten zu meiner Patientin geworden, und ich ächzte unter der vermeintlichen und angenommenen Last, als Atlas die immer schwerer werdende Weltkugel unseres Glücks tragen zu müssen.
    Nach diesem Herbst 1996 rollte unsere Ehe, die kein Ziel mehr hatte, vorwärtsgetrieben vom Schwung der Gewohnheiten, noch ein gutes Jahr lang weiter wie zuvor, bis wir im März 1998 von wohlhabenden Freunden auf ein langes Wochenende in ihr Chalet in Chamonix eingeladen wurden. Hélène fährt gar nicht Ski, sie wollte sich mit Spaziergängen im sonnigen Tal begnügen. Ich hatte seit einem Skiurlaub mit einem Freund mehr als zehn Jahre zuvor nicht mehr auf Brettern gestanden, aber als ich meine Leihskier auf dem
Idiotenhügel ausprobierte, stellte ich beglückt fest, dass ich nichts verlernt hatte, ja dass ich, als hätten meine Träume vom Skifahren meine Fähigkeiten im Schlafe verbessert, sicherer fuhr als je zuvor, auch wenn es nur für die blauen Pisten reichte.
    Dann saß ich im Sessellift, gleißendes Weiß überall um mich herum und intensives, wolkenloses Blau über mir, selbst durch die Sonnenbrille nur mit zusammengekniffenen Augen zu ertragen. Schnee und Luft dufteten, in meinem Rücken erhob sich bläulich schimmernd das Massiv des Montblanc, wurde die Stadt unter mir kleiner und geriet schließlich außer Sicht. Ich glitt höher und höher, und aufgrund einer Kuppe, die überwunden werden musste, kam es mir so vor, als schwebte ich, als segelte ich vogelleicht direkt hinauf in diesen immensen blauen Himmel, immer weiter, immer höher, immer leichter, immer freier.
    Es war ein so jauchzendes Erlebnis von Freiheit und
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