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Das alte Kind

Das alte Kind

Titel: Das alte Kind
Autoren: Zoe Beck
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Erklärung schuldig.
     
    Als Tori und ich heirateten und nach Berlin gingen, waren von Anfang an Kinder ein Thema gewesen. Wir wollten beide, aber ich muss sagen, dass ich den fast schon manischen Kinderwunsch Toris unterschätzt habe. Hätte es länger gedauert, bis sie schwanger wurde, wäre er mir vermutlich aufgefallen. Aber kurz nach der Hochzeit befand sie sich bereits in anderen Umständen. Sie bat mich, niemandem etwas davon zu sagen, weil sie Angst hatte, sie könnte das Kind verlieren. Ich respektierte ihren Wunsch. Tori trug in der Zeit weite Kleidung und machte Bekannten gegenüber Witze darüber, dass bald mal wieder eine Diät fällig wäre. Natürlich bekamen die engeren Freunde mit, was los war, und sie lächelten, sagten aber kein Wort. Es war damals noch nicht so üblich, seinen Schwangerschaftsbauch zu präsentieren, wie es heute die Frauen machen. Deshalb kam es weder mir noch sonst jemandem komisch vor, dass Tori nicht damit hausieren ging.
     
    Sie lernte Deine Mutter, Carla Arnim, bei einem Kinoabend des British Coucil kennen. Carla war ungefähr in derselben Schwangerschaftswoche, aber Tori wollte ja nicht darüber reden. Sie tauschten Telefonnummern aus, aber sie hatten so gut wie keinen Kontakt, es sei denn, sie trafen sich zufällig irgendwo.
     
    Tori bekam im März unsere Tochter. Sie war die glücklichste Frau auf der ganzen Welt. Das sagte sie, und ich empfand es auch genauso. Fortan gab es kein anderes Thema mehr als dieses kleine, fröhliche Mädchen. Bis Tori eines Tages anfing, sich um ihre Gesundheit zu sorgen. Sie fand, das Kind wachse nicht schnell genug. Sie fand, etwas sei mit der Haut, mit dem Haar. Sie rannte sofort zum Arzt, aber da sagte man ihr, was ihr jeder gesagt hätte: Es gibt unterschiedliche Wachstumsphasen, warten Sie noch ein bisschen, das ist ganz normal. Nicht alle Kinder haben sofort Haare. Und so weiter. Aber sie hörte nicht auf die Ärzte. Sie hatte eine übermächtige Angst, ihr Kind könnte krank sein. Tori hatte einen behinderten Bruder, Philip, was Du natürlich weißt, und sie sagte mir, sie würde es nicht überstehen, sollte ihr Kind wie Philip sein; sie würde wie ihre Mutter daran zerbrechen. Ich sagte ihr: Man hätte es doch gleich nach der Geburt bemerkt, wenn sie behindert wäre. Und sie antwortete: Es gibt da diese sehr seltene Krankheit, das Hutchinson-Gilford-Syndrom. Ich habe mich für meine Doktorarbeit damit beschäftigt. Und ich erkenne bei meiner Tochter alle relevanten Symptome. Ich bin mir sicher, dass sie diese Krankheit hat, sie wird in wenigen Jahren sterben, ich weiß, wie schrecklich es werden wird, und ich weiß, dass ich damit niemals klarkomme. Ich will eine gesunde Tochter.
     
    Ich wusste wirklich nicht, was ich tun sollte. Ich versicherte ihr, alles sei in Ordnung – obwohl sie ja so recht hatte. Aber wie hätte ich es damals wissen können! Ich war der Meinung, sie bilde es sich nur ein. Angst wegen ihres behinderten Bruders, die intensive Beschäftigung mit einer Krankheit, die bei Kindern auftritt…
     
    Dann kam sie, es war Anfang September 1978, ganz aufgeregt nach Hause und berichtete mir, Carla Arnim in deren Galerie getroffen zu haben. Sie hätte ein Mädchen ungefähr im selben Alter wie unsere Tochter. Genauso groß, genauso schwer, dieselben Kulleraugen und dieselbe Stupsnase, und vor allem: kerngesund. Und sie müsse mit einer Gürtelrose ins Krankenhaus.
     
    Sie nimmt ihr Kind mit in die Klinik, sagte mir Tori. Sie hat noch kein Kindermädchen für die Kleine, ihr Sohn geht ja schon zur Schule.
     
    Ich verstand nicht, was sie meinte.
     
    Das Kind wird von ihr isoliert, erklärte sie, und ich verstand immer noch nicht, was sie meinte.
     
    Bis sie eine Woche später unserem gesamten Personal kündigte, ohne mir einen Grund zu nennen. Sie hatte seltsam glänzende Augen und gerötete Wangen, sie sah aus, als hätte sie Fieber. Und sie wollte nicht mit mir darüber reden.
     
    Zwei Tage später lag ein fremdes Kind im Bettchen meiner Tochter.
     
    Ich hab es getan, sagte Tori. Wir haben jetzt eine gesunde Tochter.
     
    Ich meldete mich sofort krank. Dann redete ich Tag und Nacht auf sie ein, das Kind zurückzubringen. Sie weigerte sich. Schloss sich im Kinderzimmer ein. Drohte nach drei, vier Tagen sogar damit, sich und das fremde Kind umzubringen, wenn ich sie nicht in Ruhe ließ. Irgendwann vergaß sie, das Kinderzimmer abzuschließen. Als sie schlief, schlich ich mich rein, nahm das Kind und fuhr damit zum
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