Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das 2. Buch Des Blutes - 2

Das 2. Buch Des Blutes - 2

Titel: Das 2. Buch Des Blutes - 2
Autoren: Clive Barker
Vom Netzwerk:
die Wegspur rätselhaft verdunkelt, denn eine Flutwelle schob sich auf den Wagen zu, eine dicke, hohe Flutwelle Blut. Judd drehte und wendete seine Gedanken, um dem Anblick irgendeinen anderen Sinn abzugewinnen, nur nicht diesen einen, unausweichlichen. Aber es gab keine vernünftige Erklärung. Es war Blut, in unerträglichem Überfluß, Blut ohne Ende.
    Und jetzt trug der leichte Wind die Würze frisch nach dem Tod geöffneter Leichen heran: den Geruch aus der Tiefe des menschlichen Lebens, süß zum Teil, zum Teil pikant.
    Mick wankte zur Beifahrerseite des VW zurück und hantierte schwach am Türgriff herum. Die Tür öffnete sich unversehens, und er taumelte hinein mit glasigen Augen.
    »Stoß zurück«, sagte er.
    Judd langte nach dem Anlasser. Die Blutflut schwappte schon gegen die Vorderräder. Weiter vorn war die ganze Welt rot.
    »Fahr los, verdammte Scheiße, fahr!«
    Judd machte keine Anstalten, den Wagen zu starten.
    »Wir müssen nachsehen«, sagte er ohne Überzeugung, »bleibt uns nichts übrig.«
    »Gar nichts müssen wir«, sagte Mick. »Bloß hier raus ums Verrecken. Was geht’s uns an…«
    »Ein Flugzeugabsturz…«
    »Kein Rauch zu sehn.«
    »Aber das sind menschliche Stimmen.«
    Instinktiv wollte Mick die Sache auf sich beruhen lassen. Er konnte über die Tragödie in der Zeitung lesen - er konnte sich die Bilder morgen anschauen, wenn sie grau und grobgerastert waren. Heute war’s zu nah und neu, zu unvorhersehbar. Alles mögliche konnte einen am Ende dieses Weges erwarten, blutüberströmt…
    »Wir müssen…«
    Judd ließ den Wagen an, während Mick neben ihm leise zu jammern anfing. Der VW schob sich vorwärts, bahnte sich vorsichtig einen Weg durch diesen Strom aus Blut. In der ekligen, schaumigen Flut drehten die Räder durch.
    »Nicht«, sagte Mick ganz leise. »Bitte, nicht…«
    »Wir müssen«, war Judds Antwort. »Wir müssen einfach.«
    Nur wenige Meter entfernt erholte sich die überlebende Stadt Popolac vom ersten Schreck. Sie starrte mit tausend Augen auf die Ruinen ihres rituellen Feindes, der jetzt in einem Gewirr aus Stricken und Leibern über den von Einschlägen übersäten Boden verstreut war, zerschmettert für immer. Popolac wankte zurück vor diesem Anblick, seine riesenhaften Beine ebneten den Wald ein, der den Festplatz umsäumte, seine Arme zerdroschen die Luft. Aber Popolac hielt sein Gleichgewicht, selbst dann noch, als ein kollektiver Wahn, hervorgerufen durch den Greuel ihm zu Füßen, seine Muskeln durchbrandete und sein Gehirn lahmte. Die Ordnung ließ nach: Der Körper schlug um sich, bäumte sich auf und wandte sich ab von dem gräßlichen Podujevo-Teppich, um in die Berge zu fliehen.
    Als er fortstampfte ins Vergessen, schob sich seine hochgetürmte Gestalt vorübergehend zwischen den Wagen .und die Sonne und warf ihren kalten Schatten über den blutigen Pfad.
    Mick sah nichts durch seinen Tränenschleier, und Judd, der die Augen in Erwartung des Anblicks, der ihn um die nächste Wegbiegung erwartete, zusammengezogen hatte, registrierte nur verschwommen, daß etwas das Taglicht eine Minute lang verdunkelt hatte. Eine Wolke vielleicht. Ein Vogelschwarm.
    Hätte er in diesem Moment aufgeschaut, nur einen verstohlenen, flüchtigen Blick gewagt hinaus nach Nordwest, dann hätte er Popolacs Kopf gesehen, den riesenhaften, wimmelnden Kopf einer irrsinnig gewordenen Stadt, die in die Berge hineinmarschierte und aus seinem Gesichtsfeld verschwand. Er hätte dann sehr wohl begriffen, daß dieses Territorium seinen Horizont überstieg; und daß jede Hilfe zu spät kam in diesem Höllenwinkel. Aber er sah die Stadt nicht, und damit war seine und Micks letzte Möglichkeit zur Umkehr dahin. Von jetzt ab waren sie wie Popolac und ihre tote Zwillingsschwester für gesunde Verstandesregungen nicht mehr empfänglich und aller Lebenshoffnung ledig.
    Sie bogen um die Wegkurve, und die Trümmer Podujevos kamen in Sicht. Nie hätte sich ihre zivilisierte Einbildungskraft etwas so unaussprechlich Grausames träumen lassen.
    Vielleicht waren auch auf den Schlachtfeldern der Weltkriege so viele Leichen aufgetürmt gewesen: Aber waren, zusammengekeilt mit den toten Männern, so viele Frauen und Kinder darunter gewesen? Es hatte derart hohe Stapel von Toten gegeben, aber wann jemals solche, die so kurz vorher noch übergeschäumt waren vor Leben? Es hatte so rasch verwüstete Städte gegeben, aber wann jemals eine ganze Stadt, die dem bloßen Gebot der Schwerkraft zum Opfer
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher