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Das 2. Buch Des Blutes - 2

Das 2. Buch Des Blutes - 2

Titel: Das 2. Buch Des Blutes - 2
Autoren: Clive Barker
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gefallen war?
    Das war kein Anblick mehr, der Übelkeit verursachte. Konfrontiert mit ihm, verlangsamte sich das Denkvermögen bis zum Schneckentempo, die Verstandeskräfte nahmen den Augenschein penibel unter die Lupe, durchsuchten ihn nach einer fehlerhaften Stelle, nach einem Defekt, bei dem sie konstatieren konnten: Dies hier geschieht nicht wirklich. Es ist ein Traum vom Tod, nicht der Tod selbst.
    Aber der Verstand konnte keinen Schwachpunkt in der Mauer finden. Dies hier war wahr. Es war der Tod, unleugbar.
    Podujevo war gefallen.
    Achtunddreißigtausendsiebenhundertfünfundsechzig Bürger waren über den Boden verstreut oder vielmehr roh in plumpen, sickernden Stapeln hingeschleudert. Jene, die nicht beim Sturz oder durch Ersticken gestorben waren, lagen im Sterben. Von dieser Stadt würde es keine Überlebenden geben, bis auf das Häufchen Zuschauer, die aus ihren Wohnstätten hergekrochen waren, um dem Wettkampf zuzusehen. Diese wenigen Podujevianer - Verkrüppelte, Kranke, ein paar Hochbetagte - begafften jetzt wie Mick und Judd das Gemetzel und wollten es einfach nicht wahrhaben.
    Judd war als erster aus dem Wagen. Der Boden unter seinen Wildlederschuhen war klebrig vor verldumpendem Blutgerinnsel. Es inspizierte das Blutbad. Keinerlei Wrackteile: kein Hinweis auf einen Flugzeugabsturz, kein Brand, kein Treibstoffgeruch. Nur Zehntausende warmer Leichen, die alle, Männer, Frauen und Kinder gleichermaßen, entweder nackt oder uniform mit grauem Serge bekleidet waren. Einige von ihnen trugen, wie er sehen konnte, ledernes Gurtzeug, das straff um den Oberkörper geschnallt war, und aus diesen absonderlichen Vorrichtungen schlängelten sich Seüenden, Idlometer- und aberkilometerlang. Je genauer er hinschaute, desto deutlicher sah er das außerordentliche System von Verknotungen und Vertäuungen, das die Körper noch immer zusammenhielt. Aus irgendeinem Grund waren diese Menschen zusammengebunden worden, einer an den anderen.
    Manche waren auf die Schultern ihrer Genossen gejocht, saßen rittlings auf ihnen wie Jungen beim Pferd-und-Reiter-Spiel.
    Andere waren Arm in Arm verzurrt, mit Seilfäden zu einer Wandung aus Muskeln und Knochen zusammengeschweißt.
    Wieder andere waren mit zwischen den Knien eingeklemmten Köpfen zu einem Ball verschnürt. Alle waren auf irgendeine Weise ganz mit ihrem Nächsten verkoppelt wie bei einem wahnsinnigen kollektiven Fesselungsspiel.
    Wieder ein Schuß.
    Mick schaute auf.
    Auf der anderen Seite des Feldes ging ein einzelner, mit einem erdgrauen, schweren Mantel bekleideter Mann zwischen den Leichen herum und beförderte die Sterbenden mit einem Revolver ins Jenseits. Es war ein bejammernswürdig unzulänglicher Mitleidsakt, aber trotzdem machte er weiter, suchte als erstes die leidenden Kinder heraus. Er leerte den Revolver, lud ihn wieder, leerte ihn, lud ihn, leerte ihn…
    Mick konnte nicht mehr an sich halten. Aus vollem Halse überbrüllte er das Stöhnen der Verletzten: »Was ist hier los?*
    Der Mann blickte von seiner traurigentsetzlichen Pflicht auf, sein Gesicht war so todgrau wie sein Mantel.
    »Ha?« brummte er und blickte die zwei Eindringlinge durch seine dicke Brille finster an.
    »Was ist hier passiert?« brüllte Mick. Es tat wohl zu brüllen, es tat wohl, den Mann wütend anzuherrschen. Womöglich hatte er schuld. Es wäre eine feine Sache gewesen, jemand zu haben, dem man einfach die Schuld anhängen konnte.
    »Reden Sie…« sagte Mick. Er konnte die Tränen in seiner Stimme zittern hören. »Reden Sie, um Himmels willen! Erklären Sie, was geschah!«
    Graumantel schüttelte den Kopf. Er verstand kein Wort von dem, was der junge Idiot da sagte. Er bekam lediglich mit, daß er Englisch redete, sonst nichts. Mick ging zu ihm und spürte dabei fortwährend die Augen der Toten auf sich. Augen wie schimmernde schwarze Edelsteine, eingefaßt in zerbrochene Gesichter: Augen, die ihn verkehrt herum anblickten aus Köpfen, die abgetrennt waren. Augen in Köpfen, die pures Geheul statt einer Stimme hatten. Augen in Köpfen, die nicht mehr heulten und atmeten.
    Tausende Augen.
    Mick erreichte Graumantel, dessen Waffe fast leer war. Er hatte die Brille abgenommen und beiseite geworfen. Auch er weinte, leichte Zuckungen durchliefen seinen großen, plumpen Körper.
    Am Boden unten langte jemand nach Micks Füßen. Er wollte nicht hinschauen, aber die Hand berührte seinen Schuh, und er konnte nicht umhin, ihren Eigner zu sehen. Ein junger Mann, wie ein Hakenkreuz aus
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