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Darling, ich bin deine Tante Mame! - Roman

Titel: Darling, ich bin deine Tante Mame! - Roman
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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anderen Gästen an. Sie benutzten alle so komische Wörter, zum Beispiel » Batik « und » Freud « und » Minderwertigkeitskomplex « und » Abstraktion « . Eine Dame mit roten Haaren sagte, sie hätte eine Stunde bei ihrem Arzt auf der Couch verbracht, und jedes Mal, wenn sie käme, berechne er ihr fünfundzwanzig Dollar. Norah geleitete mich in eine andere Ecke des Raums.
    Der kleine Japaner reichte Norah ein Glas und sagte, es sei frisch gelöschte Ladung, und Norah sagte, sie vertrage keine geistigen Getränke– dabei war sie es, die mir immer wieder erzählte, sie sähe Geister und Gespenster–, aber diesmal würde sie sich einen Tropfen genehmigen. Sie wirkte ganz selig, urplötzlich, und kurz darauf bat sie Ito, ihr noch ein Schlückchen nachzugießen.
    Wenig später brachen die Gäste auf. Eine Gruppe sagte, sie wollten heute Abend noch dem guten alten Texas einen Besuch abstatten, sie müssten frühzeitig da sein, wenn sie noch eingelassen werden wollten. Ich hatte immer gedacht, Texas sei ziemlich weit entfernt von New York.
    Andere standen immer noch draußen in der Vorhalle herum und redeten über Dinge, die ich nicht verstand, Lysistrata, Netsuke und Lapislazuli, und über einen gewissen Karl Marx, den ich für einen Verwandten von Groucho, Harpo, Chico und Zeppo hielt. Dann trat Tante Mame in einem gelben Abendkleid auf, so eins wie Bessie Love in The Broadway Melody trug. Vorne sehr kurz, hinten sehr lang, und japanisch sah sie auch nicht mehr aus.
    » Gute Nacht, Darling « , sagte sie und küsste mich. » Morgen werden wir beide uns mal ausführlich miteinander unterhalten– aber nicht zu früh. « Die Tür fiel ins Schloss, und es war ruhig in der Wohnung.
    Sanft nahm mich der japanische Hausdiener an die Hand. » Du Hunger. Komm Abend essen « , sagte er freundlich. » Möchtest du vielleicht vorher auf die Toilette gehen, kleiner Junge? «
    Mir wurde heiß und kalt, als ich es mit schrecklicher Gewissheit erkannte.
    » Ich, ich war schon « , stotterte ich und sah mit Entsetzen einen dunklen Fleck sich auf meinem neuen sommerlichen Traueranzug ausbreiten.

2. Kapitel
    Tante Mame
    und die Kinderstunde
    D er Artikel im Digest berichtet des Weiteren, dass die New-England-Jungfer den Findling, den man vor ihrer Haustür ausgesetzt hatte, zunehmend lieb gewinnt. Sie gewinnt ihn nicht nur lieb, mehr noch, sie begeistert sich für Fragen der Kindererziehung und Kinderpsychologie und solcherlei Dinge.
    Als der Zeitpunkt naht, da der Knabe eingeschult werden soll, kommt es zu schweren Differenzen zwischen Miss Unvergesslich und dem örtlichen Schulausschuss. Der Beamte, der Schulschwänzer verfolgt, ist Tag und Nacht hinter dem Jungen her, aber unsere liebe kleine Jungfer bleibt standhaft und setzt, ganz aus eigener Kraft, radikale Reformen im Schulsystem durch.
    Na und? Das ist doch gar nichts. Tante Mame hatte auch originelle Vorstellungen, was das Seelenleben und die Erziehung von Kindern betrifft.
    Wenn ich an Tante Mame zurückdenke, an den Wirbelwind, der sie 1929 war, dann muss ich sagen, dass sie die Aussicht, einen ihr völlig fremden zehnjährigen Jungen großzuziehen, sicher ebenso erschreckt hat wie mich, als ich mit großen Augen und verschüchtert zum ersten Mal der orientalischen Pracht ihrer Wohnung am Beekman Place gegenüberstand. Niemals jedoch hätte Tante Mame sich geschlagen gegeben. Meine Tante hatte etwas von dem aufmüpfigen Pfadfindergeist an sich, nach dem Motto: Denen werden wir’s zeigen. Und obwohl ihre Ansichten über Kindererziehung vielleicht als ein wenig unorthodox bezeichnet werden könnten– was eigentlich für alle ihre Ansichten galt, egal über was–, funktionierte Tante Mames einzigartiges System auf seine zwanglose Art doch recht gut.
    Unser erstes Gespräch fand an meinem zweiten Tag in New York um ein Uhr mittags in Tante Mames riesigem Schlafzimmer statt. Ich fühlte mich unverstanden, ungeliebt und unerwünscht und schrecklich einsam, während ich gelangweilt durch die große Maisonettewohnung schlenderte, nur Norah leistete mir Gesellschaft. Ito, der kleine japanische Hausdiener, kochte mir ein reichhaltiges Mittagessen und kicherte viel, aber sonst war nichts aus ihm herauszukriegen. Um ein Uhr war ich so frustriert, dass ich anfing, Bibelgestalten, die jedes Kind kennen sollte – Altes Testament zu lesen, da kam Ito in mein Zimmer und sagte: » Du jetzt Madame aufsuchen. «
    Tante Mame empfing mich in ihrem Schlafzimmer in der oberen Etage. Es war
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