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Darling, ich bin deine Tante Mame! - Roman

Titel: Darling, ich bin deine Tante Mame! - Roman
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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ein gewaltiges Gemach mit schwarzen Wänden, einem weißen Teppich und einer goldenen Decke. Die einzigen Möbelstücke, die sich darin befanden, waren ein goldenes Bett von üppigem Format, das auf einem Podest stand, sowie ein Nachttisch. Die meisten Menschen hätte so ein Raum vermutlich depressiv gestimmt, nicht so Tante Mame. Sie war munter wie ein Vogel. Ja, in ihrem Nachtjäckchen aus rosa Straußenfedern sah sie sogar aus wie ein Vogel. Sie las Gides Die Falschmünzer und rauchte Melachrino mit einer langen Zigarettenspitze aus Bernstein.
    » Guten Morgen, mein kleiner Liebling « , trällerte sie. » Komm her und gib deiner Tante Mame einen Kuss, aber sanft, mein Schatz, Tante Mame fühlt sich abscheulich. « Ich küsste sie so sanft ich konnte. » Das war lieb, Schatz. Eines Tages wirst du eine glückliche Frau noch glücklicher machen. Jetzt setz dich her zu Tante Mame aufs Bett– aber ganz behutsam, Schatz–, und wir verplaudern ein bisschen den Morgen. Damit wir uns kennen lernen. «
    Morgens, das fand ich bald heraus, bedeutete ein Uhr mittags für Tante Mame. Frühmorgens, das war elf Uhr morgens, und neun Uhr morgens war mitten in der Nacht.
    » Hat diese Reinheit morgens nicht etwas Herrliches! « , sagte sie mit schwungvoller Geste und streute dabei Asche über die schwarzen Seidenlaken.
    » Also, Darling « , sagte sie, » wir müssen uns erst noch richtig miteinander bekannt machen. Ich hatte noch nie einen kleinen Jungen bei mir wohnen, und… Hoppla, da kommt das Frühstück.
    Also, wollen wir mal sehen « , sagte sie hellwach. Sie kramte in dem Durcheinander von Papieren auf ihrem Nachttisch und fischte eine Abschrift des Testaments meines Vaters hervor, die sie mit etlichen Telefonnummern und hier und da mit einer Einkaufsliste verziert hatte. Auch einen gelben Notizblock und einen dicken schwarzen Bleistift zupfte sie hervor. » Ich bin also dein Vormund. So viel steht fest. In dieser Hinsicht gibt es keinen Klärungsbedarf. Dein Vater sagt weiter, du sollst als Protestant erzogen werden. Dagegen habe ich nichts einzuwenden, bestimmt nicht, obgleich es wirklich schade ist, dass dir dadurch die exquisiten Mysterien einiger östlicher Religionen vorenthalten werden. Was manche Dinge betrifft, war dein Vater allerdings schon immer ein Banause. Aber ich will nicht schlecht über meinen eigenen Bruder reden. In welche Kirche seid ihr gegangen, Darling? «
    » In die Vierte Presbyterianische « , antwortete ich mit einem unguten Gefühl.
    » Liebe Güte, Kindchen, soll das heißen, dass es in diesem Chicago vier presbyterianische Kirchen gibt? Na gut, egal. Irgendeine presbyterianische Kirche werden wir hier in der Nähe schon auftun. « Theatralisch verdrehte sie die Augen an die Decke. » Dein Vater hätte sicher keine Bedenken, wenn ich dich Monsignore Malarky vorstelle. Ein ganz reizender Mensch, sehr kultiviert, und Augen hat er wie Saphire! Irgendwann nächste Woche kommt er mal zum Cocktail vorbei, aber er muss mir auf die Hand versprechen, dass er nicht mit dir fachsimpelt. «
    Tante Mame kam wieder zur Sache, auf das Testament. » Damit wäre also deine religiöse Erziehung abgehakt. Kommen wir zur schulischen. Wie weit bist du mit der Schule, mein Schatz? «
    » Fünfte Klasse, Humanistische Höhere Lehranstalt für Knaben, Chicago. «
    » Fünfte Klasse! Lieber Himmel, bist du nicht gut genug für die erste Klasse? Auf mich machst du jedenfalls einen klugen Eindruck. «
    Mit der Geduld eines Zehnjährigen erklärte ich ihr, dass fünfte Klasse fünfte Schulklasse bedeutete.
    » Ach so, und wie weit ist man mit zehn Jahren? «
    » In der fünften Klasse, aber ich war erst neun, als ich in die Klasse kam. «
    » Dann bist du also doch frühreif. «
    » Wie bitte? « , sagte ich.
    » Frühreif, mein Schatz. Klug für dein Alter. Deinem Alter voraus in der Schule. «
    » Ja « , sagte ich. » Das ganze Schuljahr über. «
    » Das freut mich wirklich sehr, Darling! « , trällerte Tante Mame und kritzelte etwas auf ihren Block. » Wir waren schon immer eine intellektuelle Familie, obwohl dein Vater alles Mögliche unternommen hat, um diese Tatsache zu verschleiern. «
    Sie widmete sich wieder dem Testament. » Dein Vater schreibt hier, du sollst eine konservative Schule besuchen. Das passt zu ihm. Sag mal, war dieses humanistische Dingsda konservativ? «
    » Ich verstehe nicht, was du meinst « , sagte ich und wurde rot.
    » War sie prüde? Langweilig? Zum Einschlafen? Muffig? «
    » Ja,
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