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Daraus lassen sich ein paar Erzählungen machen

Daraus lassen sich ein paar Erzählungen machen

Titel: Daraus lassen sich ein paar Erzählungen machen
Autoren: Taras Prochasko
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Dichte, Geschwindigkeit und Elastizität des Wassers der Ljubischnja, Bystryzja, Rybnyzja, Theiß, des Dnister, Dnipro, der Memel, der Donau, des Psluch, der Schatzki Seen und des Sees bei Trakai, und wie es sich anfaßt oder anfühlt. Daran, wie sich Blut und Milch vermischten, als ich mit einer vollen Flasche in jeder Hand die Treppe hinunterfiel. An die Namen aller Charaktere in dem Buch Tomek auf der Suche nach Yeti. Daran, wie dort, wo wir einmal gewohnt haben, gegen Morgen das Blech des Vorhauses, das sich tagsüber aufgeheizt hatte, beim Abkühlen knackte. An den Gesichtsausdruck des Hundes, der beschlossen hatte, uns zu gehören, und beinahe jeden von uns einmal gebissen hat. Daran, wie sich die Sehnen an den Ellenbogen verhärten, wenn du nachts mit zwei schlafenden Kindern auf dem Arm einen weiten Heimweg hast. An den Weg zu dem kleinen Laden mit jungem Wein in Regensburg. Daran, wie man Hände und Füße setzen muß, wenn man über die Leiter auf einen Panzer klettert. Und wie mein Vater 1950 in der Volksschule während des Unterrichts festgenommen wurde.
    Ich erinnere mich an Unmengen solch unnützer Details. Und manchmal, wenn ich allein bin, nichts tue und nichts sage, scheint es mir, als machten genau sie mein eigentliches Ich aus. Eine Anhäufung chaotischer Belanglosigkeiten, deren einzige Daseinsberechtigung darin besteht, daß sie bald wieder verschwinden, ohne auch nur die geringste Spur auf der Erde zu hinterlassen.
    Das Problem mit meinem Gedächtnis ist sein pathologisch deformiertes Prinzip der Informationsauswahl … Ich verstehe, daß das Vergessen eine ebenso unabdingbare Funktion des Gedächtnisses ist wie das Merken, aber doch nicht in diesem Ausmaß. Daß man sich so wenige notwendige, wichtige, bedeutende, wertvolle, frohe, bewegte Momente merkt. Daß man sogar Worte vergißt. Sogar niedergeschriebene Worte.
    Daß man sich nicht einmal merkt, daß man sich etwas merken muß. Ereignisse und Phrasen so sehr zu vergessen, daß du nicht glauben kannst, daß es deine Erinnerungen sind. Als wärst du irgendwo nicht gewesen, wo du richtig glücklich warst. Als wäre ganze Tage lang ein anderer du gewesen, wie in einem schlechten Film. (Mit blauen Flecken und Kratzern ist es manchmal genauso.)
    So paradox es klingen mag, aber manchmal muß man sich, um zu sich selbst zurückzufinden, einer Fiktion hingeben, die sich vielleicht als die wahrste aller Erinnerungen entpuppt.
    8
    Meine erste Erfahrung mit dem Tod machte ich mit sieben (mein Bruder war fünf, bei ihm begann also alles früher, obwohl er später geboren wurde). Damals starb eine unserer Großmütter.
    Ich mußte noch weitere sieben Jahre leben, um zu begreifen, daß dieser Tod keine Ausnahme war, keine Kinderphantasie. Daß die Menschen tatsächlich nach und nach gehen. Daß man genau dieses Gehen als den eigenen Tod oder den Tod der einen umgebenden Welt bezeichnet.
    Ein paar Jahre später wurde mir außerdem bewußt, daß es einen deutlichen Unterschied zwischen Tod und Sterben gibt. Das Sterben läßt, unabhängig von der Intensität der Empfindungen, keineswegs das Gefühl aufkommen, der Tod sei nahe. Es ist dein privates Abenteuer, das wie der gefährlichste Traum kein endgültiges Ende zu nehmen scheint. Der eigentliche Tod hingegen besteht darin, daß vollständige und für dich wichtige Welten einfach aufhören zu existieren.
    Noch etwas Zeit verging. Und ich sah, konnte mich davon überzeugen, daß es den Tod überhaupt nicht gibt. Welten gehen nirgendwohin. Sie nisten sich ohne Zweifel irgendwo in der Nähe ein: neben, in, auf, bei, hinter, vor … (Dabei meine ich nicht einmal die Genetik.)
    Großmutter erwies sich hinsichtlich dessen, was man Erbe nennt, als ungeheuer großzügig.
    Es geht nicht um das, woran ich mich tatsächlich erinnere. Denn erinnern kann ich mich nur an weniges. Ich erinnere mich an eine Zurechtweisung. »Sei nicht ordinär «, bat Großmutter und benutzte dabei den deutschen Ausdruck. Ich erinnere mich an ein paar deutsche Sprichwörter, die sie vor sich hin sagte, während mein Bruder und ich an ihrem Bett saßen. Ich erinnere mich daran, wie sie bis in die letzten Tage ihres Lebens täglich Gymnastik machte. Ich erinnere mich an die Besuche des fast heiligen Pfarrers Slesjuk bei ihr, wie sie sich lange in ihrem Zimmer unterhielten und beteten, wie sie eine das Kreuz tragende Jesusfigur auf den Tisch stellten. Ich erinnere mich daran, wie ich krank im Bett lag und leise ein Lied über die
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