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Daraus lassen sich ein paar Erzählungen machen

Daraus lassen sich ein paar Erzählungen machen

Titel: Daraus lassen sich ein paar Erzählungen machen
Autoren: Taras Prochasko
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abgeschlossen und genoß vor den verschiedenen Fronteinsätzen eine gewisse Reisefreiheit –, kam Anfang des Jahres aus mir unbekannten Gründen nach Gmünd. Vielleicht um einen seiner Bekannten aus Galizien zu besuchen. Jedenfalls lernten sich Großvater und Großmutter in Gmünd kennen. Und dieses Buch ist wohl ein Geschenk, das er später, in Mykolajiw, von ihr erhielt, beide waren zwanzig Jahre alt. Dann kamen die Alpen, die Traumata, derNovemberaufstand 21 , die Ukrainisch-Galizische Armee, Gefangenschaft, andere Baracken, der Tod von Angehörigen und Freunden, der Zerfall des Imperiums, das Studium in Wien, die Kinder, der nächste Krieg und das restliche 20. Jahrhundert. Die traurigen Märchen von Oscar Wilde haben alle Umzüge mitgemacht. Im Grunde kann man auch die Tatsache, daß ihr Urenkel das Buch vor kurzem vom Staub befreit hat, als Fortschritt bezeichnen. Oder als Vertrautheit. Oder als vertraut gewordenen Fortschritt. Oder als Fortschritt von Vertrautheit, oder … Folgende Abweichung vom chronologischen Prinzip jedoch bleibt für immer ein Rätsel: An der Widmung besteht kein Zweifel (16.12.1916), auf der ersten Seite des Buches steht aber: »Erschienen im Insel Verlag, Leipzig, 1917 (5. Auflage, 41. bis 50. Tausend)«.
    Gleich neben diesem Buch stand, wohl aus Gründen der Assoziation, ein dünner Band, ein Heftchen: das Gmünder Drama Leidende Mutter von Marijka Pidhirjanka. Daran geheftet eine anonyme Erzählung über den Bau der Eisenbahn irgendwo in Wolhynien. Wieder geht es um Fortschritt. Wieder um den Beginn des 20. Jahrhunderts. Wieder um den Konflikt zwischen Fortschritt und Vertrautheit. Die Erzählung ist genauso pathetisch wie Jack Londons Geschichte von den alten Indianern, die den Angriff der weißen Amerikaner nicht abwehren konnten und versuchten, diese leise und einen nach dem anderen umzubringen (heute wieder ein überaus aktuelles Thema, besonders in unseren Bergen).
    Ein paar Tage später übernachtete ich in unserem Häuschen in den Bergen. In der Schlucht jenseits des Gartens verlaufen Eisenbahnschienen, sie sind mehr als hundert Jahre alt. Wenn ein Zug vorbeifährt, beben die Betten. Doch nicht einmal die langsamen, schwer beladenen Züge mit Dutzenden von Waggons wecken mich, mich wecken nicht die Vibrationen, nicht das Rattern, nicht das Pfeifen der Züge vor den Kurven und nicht die Lichter der Dampfloks. Ich wache auf, wenn auf der einen Kilometer entfernten Straße, jenseits der jetzt kahlen Gärten und Böschungen, die Reifen eines superschnellen Jeeps lautlos in Richtung eines Ferienortes in den Karpaten rollen. Mit diesem Fortschritt muß man erst vertraut werden.
    7
    Ich mußte so viele vollkommen unbedeutende Jahre leben, um endlich zu verstehen, daß die einzige theoretische Frage, die tatsächlich von Interesse ist, über die man nachdenken und sprechen will, die einem von Zeit zu Zeit keine Ruhe läßt, die Frage des Gedächtnisses ist. Des eigenen natürlich.
    Manchmal empfindet man eine so reine, tiefe und allumfassende Abhängigkeit vom eigenen Erinnern, daß dieses Gefühl in ein Erleben vollkommener Freiheit übergeht. Dann hast du nichts außer allem. Obwohl dieses Alles auch nichts sein kann. Dann aber hast du nicht einmal Hände, ganz zu schweigen von Augen, Ohren, Zunge, Nase und Haut. Wie du selbst, gehören auch deine Hände dem Gedächtnis. Und du bist, genau wie deine Hände, von ihm abhängig. Was kann es enthalten …? Was muß es und was braucht es nicht zu erinnern? Allein das Gedächtnis macht deine Person aus. Allein das Gedächtnis erschafft und ordnet dein Leben. Es ist das, was hier und jetzt ist.
    Ich erinnere mich an das, woran man sich nicht zu erinnern braucht.
    An den Geruch der alten Wiener Sessel in unserer Wohnung, nachdem Großmutters Gäste darauf gesessen hatten. An die Rippen der Mädchen, die ich vor Jahren beim Schaukeln anstieß; die Schaukel war an einem hohen Ast des großen Kastanienbaums am Rand der Schlucht aufgehängt. An das Drücken des ersten gestohlenen und hastig verschlungenen Brötchens in der Kehle. An das Geräusch, das der Schädel des Angreifers von sich gab, dem ich einfach einen Stein gegen den Kopf geschleudert hatte. Daran, wie viele Geräusche in der nächtlichen Wohnung an das Weinen der Kinder erinnerten, wenn diese in einem weit entfernten Zimmer schliefen. Daran, wie unglaublich sich in der ersten, vom Anfang bis zum Ende durchwachten Nacht die Farbe und das Licht des Himmels veränderten. An die
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