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Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches

Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches

Titel: Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches
Autoren: Mitch Albom
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seine Gemeinde besser kennen und fand Freude an seinen Predigten. Und obwohl ich mehr denn je ein gutes Verhältnis zu meiner eigenen Religion entwickelt hatte, nannte Henry mich immer lachend »unser erstes jüdisches Gemeindemitglied«. Ich schrieb weitere Geschichten über die Obdachlosen in meiner Zeitung. Die Leser waren berührt davon, und einige schickten Geld – mal fünf, mal zehn Dollar. Ein Leser war eine ganze Stunde auf der Autobahn unterwegs, um die Kirche aufzusuchen. Er ging hinein, sah sich um und wirkte völlig erschüttert. Dann übergab er einen Scheck über tausend Dollar und ging wieder.
    Henry eröffnete ein Sparbuch für Reparaturen. Freiwillige brachten Essen vorbei. An einem Sonntag war Henry eingeladen worden, in einer großen Kirche in den Vororten, der Northville Christian Assembly, zu predigen. Er trug eine lange schwarze Soutane und war mit einem drahtlosen Mikrofon ausgestattet. Die Bibeltexte, die er ausgewählt hatte, wurden während der Predigt auf zwei großen Bildschirmen gezeigt. Die Beleuchtung in der Kirche war perfekt, die Decke trocken und in bestem Zustand, der Sound so gut wie bei einem Konzert – es gab sogar einen Flügel hier –, und die Gemeinde bestand vorwiegend aus Leuten, die der weißen Mittelschicht angehörten. Aber Henry wäre nicht Henry gewesen, wenn er nicht binnen kurzem in seinen lebhaften Stil verfallen und die Leute dazu aufgefordert hätte, ihre Gaben für das Gemeinwohl einzusetzen, wie Jesus es einst getan hatte. Er rief die Gemeinde dazu auf, sich seine Kirche in Detroit anzusehen und dort tätig zu werden. »Wenn Sie sehen wollen, welche Wunder Gott vollbringen kann«, sagte er, »dann brauchen Sie nur mich anzuschauen.«
    Am Ende seiner Predigt standen alle auf und applaudierten. Henry trat zurück und senkte bescheiden den Kopf.
    Ich dachte an seine halb verfallene Kirche. Und mir wurde bewusst, dass wir in gewisser Weise alle ein Loch im Dach haben, eine Lücke, durch die Tränen tropfen und schlimme Erlebnisse eindringen. Wir fühlen uns verletzlich und sorgen uns, welches Unwetter uns als Nächstes zusetzen wird.
    Doch als ich an jenem Tag sah, wie all diese unbekannten Menschen Henry zujubelten, dachte ich daran, wie der Rebbe gesagt hatte, mit Glauben könne man vieles gutmachen, und alles könne sich verändern. Und in diesem Moment glaubte auch ich daran.
    Und so werden wir – wenn auch noch Schnee auf der Plastikplane auf dem Kirchendach liegt, während ich dies schreibe – das Loch im Dach reparieren, wenn das Tauwetter einsetzt.
    Eines Tages werden wir das Dach reparieren, sage ich zu Henry. Wir werden an die Großzügigkeit der Menschen appellieren und Spenden sammeln und das Dach ausbessern lassen. Weil es nötig und richtig ist.
    Wir tun es auch für ein kleines Mädchen aus der Gemeinde, das viel zu früh auf die Welt kam und dem die Ärzte keine Überlebenschance einräumten. Doch seine Eltern beteten, und die Kleine kam durch, und sie ist nun ein Energiebündel mit einem hinreißenden Grinsen und spaziert fast jeden Abend in der Kirche zwischen den Tischen der Obdachlosen herum, die ihr über den Kopf streichen. Die Kleine hat weder besonders viel Spielzeug, noch gibt es hier tolle Freizeitaktivitäten für sie – aber wenigstens gehört sie einer Gemeinschaft an und hat ein Zuhause und eine Familie, die sie liebt.
    Ihr Vater ist ein einbeiniger Mann namens Cass und ihre Mutter eine einstige Drogensüchtige namens Marlene. Die beiden wurden in der Kirche I Am My Brother’s Keeper von Pastor Henry Covington getraut.
    Und ein Jahr später kam ihr kleines Mädchen zur Welt, das nun in der Kirche umherflitzt wie auf einem privaten Spielplatz Gottes.
    Sie trägt den passenden Namen »Miracle«, Wunder.
    Der menschliche Geist ist in der Tat immer wieder ein Wunder.
    Ich frage mich noch immer, warum der Rebbe ausgerechnet mich dazu auserkor, seine Trauerrede zu halten. Und ich frage mich, ob er es nicht mehr für mich als für sich selbst getan hat. Denn direkt nachdem ich meine Trauerrede beendet hatte, wartete er mit seinem letzten Trumpf auf.
    Bevor der Kantor mit dem letzten Gebet begann, legte Ron, der Enkel des Rebbe, eine Kassette in den Recorder, der auf der Estrade stand. Und aus den Lautsprechern, aus denen wir immer Albert Lewis’ weise Stimme gehört hatten, erklang sie nun aufs Neue.
    » Liebe Freunde, hier spricht euer verblichener Rabbiner …«
    Er hatte eine Nachricht aufgenommen, die nach seinem Tod abgespielt
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