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Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches

Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches

Titel: Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches
Autoren: Mitch Albom
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immer …
    Nach seinem schweren Schlaganfall hatte der Rebbe noch einige Tage in einem friedlichen Koma gelegen, und seine Frau, seine Kinder und Enkel kamen und verabschiedeten sich von ihm. Auch ich hatte das getan – hatte sein weißes Haar berührt, meine Wange an seine gelegt und ihm gesagt, dass er den zweiten Tod nicht sterben würde, dass er nicht in Vergessenheit geraten würde, solange ich lebte. In den ganzen acht Jahren, in denen wir uns nahegekommen waren, hatte ich nie geweint vor dem Rebbe.
    Als ich es nun tat, konnte er mich nicht mehr sehen.
    Ich fuhr nach Hause und wartete auf den Anruf. Mit der Trauerrede fing ich aber noch nicht an. Das wollte ich nicht tun, solange der Rebbe noch am Leben war. Ich hatte Tonbänder, Notizen, Fotos und Blöcke voller Aufzeichnungen; Texte, Predigten und Zeitungsausschnitte; ein arabisches Schulbuch, in dem Familienbilder lagen.
    Als der Anruf dann kam, begann ich zu schreiben. Und ich warf dabei keinen einzigen Blick auf das ganze Material.
    * * *
    Jetzt spürte ich die zusammengefalteten Blätter in meiner Jackentasche – der letzte Wunsch des Rebbe an mich. Acht Jahre waren vergangen seit damals, als ich noch glaubte, ich würde wohl zwei bis drei Wochen an der Trauerrede arbeiten. Inzwischen war ich Ende vierzig und sah älter aus, wenn ich in den Spiegel schaute. Ich versuchte mich an den Abend zu erinnern, an dem dies alles begonnen hatte.
    »Würden Sie meine Trauerrede halten?«
    Es kam mir vor, als sei das in einem anderen Leben gewesen.
    In stiller Andacht begann der Gottesdienst – der erste Gottesdienst in den sechzig Jahren seit Bestehen dieser Gemeinde, den Albert Lewis nicht selbst abhielt oder zumindest besuchte. Nach einigen Gebeten sprach der jetzige Rabbiner, Steven Lindemann – den der Rebbe herzlich als seinen Nachfolger willkommen geheißen hatte –, voller Respekt und Wertschätzung von seinem Vorgänger. Er schloss mit den bewegenden Worten: »So viel ist uns verloren gegangen.«
    Dann wurde es still. Nun sollte ich sprechen.
    Ich stieg die Stufen der Estrade hinauf und ging am Sarg jenes Mannes vorbei, der mich in seinem Gotteshaus und in seinem Glauben – seinem wunderbaren Glauben – erzogen hatte, und mein Atem ging so stockend, dass ich einen Moment lang dachte, ich müsse stehenbleiben.
    Dann trat ich an das Pult, an dem Albert Lewis einst zu stehen pflegte.
    Ich beugte mich vor.
    Und begann zu sprechen.
    * * *
    Mein lieber Rabbiner,
    Sie haben es geschafft. Es ist Ihnen gelungen, uns alle außerhalb der hohen Feiertage hier zu versammeln.
    In meinem tiefsten Inneren habe ich wohl gewusst, dass dieser Tag kommen wird. Doch jetzt, wo ich hier stehe, erscheint mir das alles verkehrt. Sie sollten hier oben stehen, wo Sie hingehören. Hier haben wir Sie immer erwartet, damit Sie uns leiten, uns Neues offenbaren, uns etwas vorsingen, uns Rätsel aufgeben, uns alles erklären, angefangen vom jüdischen Recht bis zu der Seitenzahl, die wir aufschlagen sollten.
    Das Universum war so geordnet, dass wir hier unten, Gott da oben und Sie dazwischen waren. Wenn wir es nicht wagten, direkt vor Gott selbst hinzutreten, kamen wir zuerst zu Ihnen. Das war so, als spräche man zuerst mit der Vorzimmerdame vom Chef.
    Und wo sollen wir jetzt nach Ihnen Ausschau halten?
    Vor acht Jahren sprachen Sie mich nach einem Vortrag an und fragten mich, ob Sie mich um einen Gefallen bitten dürften. Sie baten mich, bei Ihrem Begräbnis zu sprechen. Ich war völlig verblüfft. Und habe bis zum heutigen Tag nicht verstanden, wie Ihre Wahl gerade auf mich gefallen war.
    Doch nachdem Sie mich gefragt hatten, waren mir zwei Dinge klar: Ich konnte diese Bitte nicht ablehnen. Und ich musste Sie besser kennenlernen – nicht als Geistlicher, sondern als Mensch. Daraufhin begann ich, Sie regelmäßig zu besuchen, und wir verbrachten hier einmal eine Stunde in Ihrem Büro, da zwei Stunden bei Ihnen zuhause.
    Aus einer Woche wurde ein Monat, aus einem Monat ein Jahr. Acht Jahre später frage ich mich, ob das Ganze nicht ein schlau eingefädelter Rabbi-Trick zur Erwachsenenbildung war. Bei unseren Treffen lachten und weinten Sie; wir debattierten und postulierten große und kleine Ideen. Ich erfuhr, dass Sie nicht nur geistliche Gewänder trugen, sondern manchmal auch schwarze Socken zu Sandalen – kein erbaulicher Anblick – in Kombination mit Bermuda-Shorts, karierten Hemden und Daunenwesten. Ich erfuhr, dass Sie wie besessen Briefe, Zeitungsartikel, Zeichnungen und
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