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Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches

Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches

Titel: Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches
Autoren: Mitch Albom
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nicht betroffen machen, denn ich sterbe schon seit dem sechsten Juli 1917. An diesem Tag wurde ich geboren, und wie uns der Psalmist sagt: Wir werden geboren, um zu sterben.
    Zu diesem Thema kam mir ein kleiner Scherz zu Ohren. Ein Pfarrer besuchte eine kleine Kirche auf dem Lande und begann seine Predigt dort mit den aufrüttelnden Worten:
    ›Jeder in dieser Gemeinde wird sterben.‹
    Der Pfarrer blickte auf die Gläubigen und bemerkte einen Mann in der ersten Reihe, der zufrieden grinste.
    ›Was erfreut Sie so?‹, fragte der Pfarrer den Mann.
    ›Ich gehöre nicht zu dieser Gemeinde‹, antwortete der. ›Ich bin nur übers Wochenende hier, um meine Schwester zu besuchen.‹«

FEBRUAR
Abschied

    T e ela hielt vor dem Supermarkt. Es lag Schnee in dieser ersten Februarwoche. Der Rebbe sah aus dem Fenster. Teela schaltete den Motor aus und fragte den Rebbe, ob er zum Einkaufen mitkommen wolle.
    »Ich bin ein bisschen müde«, antwortete er. »Ich warte hier auf Sie.«
    Rückblickend war das gewiss bereits ein Zeichen, wie schlecht sein Zustand war. Der Rebbe liebte den Supermarkt – wenn er sich den entgehen ließ, stimmte etwas nicht.
    »Können Sie die Musik anlassen?«, bat er Teela.
    »Sicher«, antwortete sie. Und während sie Milch, Brot und Pflaumensaft einkaufte, saß der Rebbe auf dem verschneiten Parkplatz allein im Auto und lauschte Hindi-Gesängen. Das waren seine letzten stillen Momente in der Außenwelt.
    Als sie nach Hause kamen, sah er geschwächt aus und hatte Schmerzen. Man machte rasch Anrufe und brachte ihn ins Krankenhaus. Die Schwestern stellten ihm einfache Fragen – nach seinem Namen, seiner Adresse –, die er alle beantworten konnte. Das Datum des Tages wusste er nicht genau, erinnerte sich aber, dass an diesem Tag Vorwahlen zur Präsidentschaftswahl stattfanden, und witzelte, er würde sich umbringen, wenn sein Kandidat auch nur mit einer Stimme verlöre.
    Er blieb für Untersuchungen im Krankenhaus, und seine Familie kam zu Besuch. Am nächsten Abend war seine jüngste Tochter, Gilah, bei ihm. Sie hatte einen Flug nach Israel gebucht und erwog nun, ihn zu verschieben.
    »Ich glaube, ich sollte lieber hierbleiben«, sagte sie.
    »Nein, geh du nur«, flüsterte der Rebbe. »Ich tue hier nichts ohne dich.«
    Er schloss die Augen. Gilah rief die Krankenschwester und bat sie, ihrem Vater seine Medikamente früher zu geben, damit er schlafen könne.
    »Gil …«, murmelte der Rebbe.
    Sie nahm seine Hand.
    »Vergiss unsere gemeinsamen Erinnerungen nicht.«
    Gilah begann zu weinen und sagte: »Nun bleibe ich ganz bestimmt hier.«
    »Nein, fahr du nur«, sagte er. »Erinnern kannst du dich da drüben auch.«
    So saßen sie eine Weile beisammen, Vater und Tochter. Schließlich stand Gilah zögernd auf, sagte dem Rebbe Gute Nacht und küsste ihn. Die Krankenschwester gab ihm seine Pillen. Als sie sich zum Gehen wandte, flüsterte er: »Bitte …, wenn Sie das Licht ausmachen …, könnten Sie dann ab und zu bei mir vorbeischauen, damit ich nicht vergessen werde?«
    Die Krankenschwester lächelte.
    »Natürlich. Wie könnten wir denn unseren singenden Rabbi vergessen.«
    Am nächsten Morgen, kurz nach Sonnenaufgang, wurde der Rebbe geweckt und gewaschen. Es war still und friedlich im Krankenhaus. Die Schwester wusch ihn behutsam, und der Rebbe war hellwach und sang und summte vor sich hin.
    Dann fiel sein Kopf nach vorne, und seine Musik verstummte für immer.
    * * *
    Es ist Sommer, und wir sitzen im Büro des Rebbe. Ich frage ihn, warum er Rabbiner geworden ist.
    Er zählt an den Fingern ab.
    »Erstens: Ich mag Menschen.
    Zweitens: Ich mag Güte und Freundlichkeit.
    Drittens: Ich bin geduldig.
    Viertens: Ich lehre gerne.
    Fünftens: Mein Glaube ist unerschütterlich.
    Sechstens: Der Beruf verbindet mich mit meiner Vergangenheit.
    Siebtens und letztens: Er ermöglicht es mir, die Botschaft unserer Tradition umzusetzen: gut zu leben, Gutes zu tun und gesegnet zu sein.«
    »Ich habe gar nichts von Gott gehört bei dieser Aufzählung.«
    Der Rebbe lächelt.
    »Gott war schon vor ›erstens‹ dran.«

Die Trauerrede

    A lle Plätze in der Synagoge waren besetzt. Die Leute begrüßten sich mit gedämpfter Stimme oder umarmten sich mit Tränen in den Augen. Niemand schaute zur Estrade. Bei jeder Trauerfeier muss man nach vorne blicken, aber man vermeidet es gewöhnlich, auf die leeren Platz zu schauen, der mit dem Verstorbenen verbunden ist. Auf diesem Stuhl saß er immer … An diesem Pult stand er
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