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Da gehen doch nur Bekloppte hin - aus dem Alltag einer Psychotherapeutin

Da gehen doch nur Bekloppte hin - aus dem Alltag einer Psychotherapeutin

Titel: Da gehen doch nur Bekloppte hin - aus dem Alltag einer Psychotherapeutin
Autoren: Heyne
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richtig gemerkt, wie mein Blutdruck steigt, aber ich hab mich nicht getraut, mich umzudrehen und zu ihr zu sagen: ›Sie setzen sich jetzt hin oder Sie fliegen raus.‹«
    Und dann würde man gemeinsam überlegen, woher das Verbot kommen könnte, sich wehren zu dürfen. Ich verwette meinen Therapeutensessel darauf, dass wir bei mindestens einem Elternteil des Patienten fündig werden.
    Ach so, Sie hatten geglaubt, die Vegetarierin auf Bekehrungsmission sei ein Fall für mich?
    Aber woher denn. Die Frau leidet doch nicht. Allenfalls unter der Tatsache, von Aasfressern umgeben zu sein. Ansonsten ist sie glücklich und zufrieden. Sie hat ein Ziel, und sie hat die Antwort auf vermutlich alle Fragen, mit denen der Rest der Menschheit sich in seiner Dumpfheit noch immer herumschlägt.
    Nein, Psychotherapie ist kein Begradigungsbetrieb für etwas ungewöhnlich gewachsene Pflänzchen.
    Wenn Bekannte zu mir sagen: »Das wäre ein Fall für dich«, kann ich sicher sein, dass dem nicht so ist. Keiner davon war jemals ein potenzieller Psychotherapiepatient. Allenfalls dessen Angehörige.
    In den meisten Fällen bedeutet »Das wäre ein Fall für dich« nichts anderes als: Der Kerl nervt mich. Meist versuchen Menschen auf diese Weise, nicht etwa jemanden zum Patienten zu machen, der leidet, sondern jemanden, der Leiden verursacht. Oder jemanden, der schlicht und einfach ungewöhnliches Verhalten an den Tag legt.
    Und selbst jemand, dem es schlecht geht, ist noch nicht unbedingt ein Kandidat für Psychotherapie. Denn:
    Psychotherapie ist nichts für Menschen, denen es schlecht geht.
    Sie sind entsetzt? Schockiert?
    Oder sind Sie ein Zyniker, der das schon immer geahnt hat?
    Moment, Moment, der Satz geht weiter:
    Psychotherapie ist nichts für Menschen, denen es schlecht geht, sondern für Menschen, denen es schlecht geht und die an sich arbeiten wollen.
    Ich habe keine guten Erfahrungen mit Patienten gemacht, deren eigener Leidensdruck nicht so groß ist wie der ihrer Umgebung. Oft ruft jemand mehrfach für eine Freundin an, um die er sich Sorgen macht, und fragt, ob ich einen Therapieplatz frei hätte. Ich erkläre, die Vorbedingung sei, dass die Betreffende (im Folgenden »das Sorgenkind« genannt) selbst anruft.
    Antwort: Ich weiß nicht, ob sie schon so weit ist.
    Ich: Wenn sie noch nicht so weit ist, wird sie auch keine Therapie durchhalten.
    Antwort: Ja, aber ich hab sie bestimmt bald so weit.
    Nach einigen ähnlich verlaufenden Telefonaten ruft das Sorgenkind schließlich selbst an, und wir vereinbaren einen Termin für ein Informationsgespräch.
    Dann geschieht in der Regel a) oder b):
    a) Zum vereinbarten Termin kommt niemand, und ich frage mich, warum ich mich wider besseres Wissen auf die Sache eingelassen habe.
    b) Zum vereinbarten Termin kommt das Sorgenkind. Das Informationsgespräch verläuft wunderbar, und es ist sofort ein Draht da. Am Ende der Sitzung erklärt das Sorgenkind, es begreife gar nicht, warum es sich so lange geziert habe, es sei so froh, hier gelandet zu sein, fühle sich total erleichtert und wolle gern eine Therapie bei mir beginnen. Und ich denke mir: Siehste, so kann man sich irren. Es gibt doch Ausnahmen.
    Danach geschieht in der Regel entweder c) oder d):
    c) Das Sorgenkind kommt zur nächsten Sitzung nicht und lässt auch nie wieder von sich hören.
    d) Das Sorgenkind spricht nachts (damit nicht die Gefahr besteht, dass ich vielleicht den Hörer abnehme) auf den Anrufbeantworter, es habe einen dringenden Termin ausgerechnet zurzeit unserer nächsten Sitzung, melde sich aber demnächst auf alle Fälle wieder, um einen neuen Termin auszumachen. Sie ahnen schon: Das Sorgenkind lässt nie wieder von sich hören.
    Fragen Sie mich nicht, warum das so ist, aber es ist so. Regelmäßig.
    Natürlich fällt es schwer mit anzusehen, dass es der besten Freundin schlecht geht und dass sie trotzdem keine Hilfe in Anspruch nehmen will. Und natürlich versucht man, ihr gut zuzureden. Wahrscheinlich ahnen die Betreffenden aber, was mit der Psychotherapie auf sie zukommt. Wer darauf beharren möchte, dass die Welt schlecht ist, der ahnt vielleicht, dass man ihn hinterlistigerweise dazu bringen möchte, selbst Verantwortung für sein Leben zu übernehmen. Und dass man schlimmstenfalls sogar vor der Entscheidung steht, sich seelisch zu häuten und Altes hinter sich zu lassen. Wem dies zu mühsam oder zu beängstigend ist, der möchte lieber weiterhin der besten Freundin mit der ewig gleichen Leier vom
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