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Cyrion

Cyrion

Titel: Cyrion
Autoren: Tanith Lee
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Ordnung. Obwohl sie dafür gesorgt hatte, daß der schlaue Fremdling für immer dort unten gefangen war, mußte sie jetzt an die Zukunft denken. Roilants Tod mußte noch vollbracht werden, bevor die Nacht vorüber war. Und dann ihr eigener Weggang, eingehüllt nur in ihre Lumpen und ihre Macht. Was sie Mevary getan hatte, würde sie in ruhiger Abgeschlossenheit genießen, wie es ihre Gewohnheit war. Und dann würde sie auch die Tränen der dem Wahnsinn verwandten Freude vergießen, wie sie es vorher schon getan hatte. Es tat ihr nur leid, daß sein Tod so rasch gekommen war. Aber immerhin. Bestimmt konnte sie noch ein Weilchen bleiben, um Roilants Ableben zu beobachten. Und in Cassireia, oder wo immer Eliset hingerichtet werden würde, konnte Valia da nicht eine unter vielen Zuschauern sein?
    Mit der ganzen Blindheit ihres von Scheuklappen begrenzten Verstandes übersah sie ein Dutzend Fehler in ihren Plänen. Und die sie erkannte, hielt sie nicht für so wichtig, womit sie letztlich recht hatte.
    Der schwache Lichtschimmer, den sie entdeckte, beunruhigte sie. Sie hielt ihn für ein Anzeichen der Morgendämmerung.
    Dann nahm der Schimmer Gestalt an. Er zog sich um einen Schatten zusammen, drang in diesen Schatten ein, und der Schatten bewegte sich auf sie zu.
    Ohne irgendeine sichtbare Lichtquelle war er doch sehr gut zu erkennen, als leuchtete er von innen heraus. Ein Mann in mittleren Jahren, mit rotbraunem Haar, das von grauen Strähnen durchzogen war, und dem Gesicht Mevarys - nur zwanzig Jahre älter und vierzig Jahre verderbter.
    Valia begann zu frieren. Nicht wegen der Kälte der Nacht, dem eisigen Bad in der Grotte. Es war die Kälte des Entsetzens. Trotzdem tasteten ihre tauben Hände in ihrem Gewand nach dem gravierten grünen Stein, dem Amulett, das Tabbit ihr gegeben hatte, damit sie sich vor dieser Erscheinung schützen konnte - die einmal Valias Onkel gewesen war, Mevary, Mevarys Vater. Der liebe Anverwandte, den sie in dem Heißwasserbecken ertränkt hatte.
    Niemals war sie so wenig vorbereitet gewesen, ihm entgegenzutreten, niemals so weit weg von den Schutzzaubern, die den Geist daran gehindert hatten, sich ihr zu nähern. Aber der grüne Stein hatte Macht. Sie hatte gesehen, wie er die Teufel abschreckte, die Tabbit ein- oder zweimal beschworen hatte. Warum konnte sie ihrer Furcht nicht Herr werden?
    »Dämon oder Geist«, zischte sie und hielt den Stein vor sich, »löse dich auf oder hebe dich hinweg. Ich befehle es dir bei der Macht dieses Steines.«
    Es gab eine kleine Schwierigkeit. Die Wirkung all der Schutzzauber und des Steines - wenn es jemals eine gegeben hatte - stammte von Tabbit. Und aller Wahrscheinlichkeit nach war Tabbit jetzt tot.
    Obwohl er sich langsam bewegte, erreichte der Geist Valias regungslose Gestalt. In seinem Gesicht zeigte sich keine Freude, keine Wut. Er packte sie nur und zog sie zu sich heran. Und wenn er auch körperlos war, konnte sie sich doch nicht gegen seine Umarmung wehren. Die furchtbare Kälte der Angst wurde ausgelöscht von der Kälte und Starre, in die der Untote sie hüllte. Der Schrei, den sie ausstoßen wollte, erstarb. Ihr Körper wurde kraftlos, schien zu schweben, alles Bewußtsein zu verlieren. Nur ihr Gehirn lebte weiter.
    Mit einem leisen Knacken fiel der Talisman zu Boden und zerbrach in zwei Teile.
    In dem Badehaus, im Zwielicht des dämmernden Morgens traf Cyrion noch einmal auf Valia.
    Sein Weg an die Erdoberfläche war einfach gewesen. Er war zu der Stelle zurückgekehrt, an der er das Seil verborgen hatte, und war in Gerris’ unruhiges Grab zurückgeklettert. Der Eisenhaken begann tatsächlich, sich zu lösen, aber er hatte immerhin seinen Dienst getan. Cyrion sah sich gezwungen, Elisets Vater noch einmal von seinem Ruheplatz zu entfernen, legte ihn aber mit Ehrerbietung zurück, bevor er aus dem Grab stieg, dessen Deckel noch nicht wieder geschlossen worden war, wie Cyrion es auch am frühen Abend Eliset gegenüber erwähnt hatte. Sonst war alles noch so, wie er es verlassen hatte. Die betäubten Wachen und Roilant lagen in tiefem Schlaf. Und niemand war auf einem Pferde geflohen.
    Im Küchenhof gab es nur trockene Blätter. Harmul und Zimir waren anscheinend einer der vernünftigen Traditionen von Flor gefolgt und hatten sich davongemacht.
    Seine Suche führte ihn schließlich in das Badehaus. Und dort lag sie, Gerris’ zweite Tochter. Ihr Haar wirkte schwarz in dem Rest Wasser, der sich noch in dem Becken befand, und trieb ziellos umher
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