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Cyberabad: Roman (German Edition)

Cyberabad: Roman (German Edition)

Titel: Cyberabad: Roman (German Edition)
Autoren: Ian McDonald
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schöpfen und es sich über den Kopf gießen. Die scharlachroten Seidenfahnen wickeln sich um ihre Bambusstangen. Die breiten Schirme aus Korb wanken, als die Brise unter ihre dekorative Bespannung fährt und sie anhebt. Er riecht nach tiefem Wasser, dieser kleine Wind. Er riecht nach Kühle und einer neuen Jahreszeit. Unterhalb der Bestattungsghats blicken die Männer auf, die den Fluss nach der goldenen Asche der Toten durchsieben, berührt von einem seltsamen Gefühl, von etwas Größerem, von etwas, das tiefer ist als ihr trostloser Beruf. Das Geräusch, mit dem die Ruder des Boots ins Wasser tauchen und platschen, ist satt und bodenlos.
    Es war am frühen Nachmittag, als der Regen aufhörte und das Dach aus grauen Wolken aufriss, und dahinter öffnete sich ein Himmel aus hohem, übernatürlichem Blau, Krishna-Blau. In diesem klaren, reingewaschenen Blau konnte man durch das gesamte Universum blicken. Die Sonne schien, die steinernen Ghats dampften. Innerhalb von Minuten war der festgetrampelte Matsch zu Staub getrocknet. Die Menschen kamen unter ihren Schirmen hervor, entblößten die Köpfe, entfalteten ihre Zeitungen und entzündeten Zigaretten. Der Regen ist vorbei, der Regen wird wiederkommen. Große Klumpen aus Kumuluswolken ziehen am östlichen Horizont jenseits der Ausdünstungen des Industriegebiets vorüber; im schnell nachlassenden Licht strahlen sie in groteskem Purpur und Gelb. Die Leute nehmen bereits ihre Positionen für die Aarti ein, die abendliche Feuerzeremonie. Selbst wenn diese Ghats Panik, fliehende Menschen, aufgeschreckte Bevölkerungsgruppen und blutigen Tod erleben, gebührt Ganga Mata Dank, endlos wie der Fluss. Trommler und Perkussionisten machen sich auf den Weg zu den Plattformen aus Holz, auf denen die Brahmanen ihre Vorstellung geben. Barfüßige Frauen steigen vorsichtig die Stufen hinunter, tauchen die Hände in den anschwellenden Fluss, bevor sie ihren gewohnten Platz aufsuchen. Sie weichen den zwei Westlern aus, die am Wasser sitzen, nicken, lächeln. Am Fluss ist jeder willkommen.
    Der Marmor unter Lisa Durnaus Schenkel ist warm und glatt wie Haut. Sie kann das Wasser riechen, das lautlos ihren Fuß umspült. Die ersten Diya-Flotten stoßen mutig in den Strom vor, trotzige kleine Lichter auf dem dunkler werdenden Wasser. Die Brise umspielt kühl ihre bloßen Schultern, eine Frau namastiert, als sie vorbeigeht, auf dem Rückweg vom vergebenden Wasser. Indien erduldet, denkt sie. Und Indien ignoriert. Das sind seine Stärken, die sich umeinanderwinden wie Liebhaber in einem Tempelrelief. Armeen treffen aufeinander, Dynastien kommen und gehen, Herrscher sterben und Nationen und Universen werden geboren, und der Strom fließt weiter, und die Menschen strömen zu ihm. Vielleicht hat diese Frau den Lichtblitz nicht einmal bemerkt, mit dem sich die Kaihs in ihr eigenes Universum zurückgezogen haben. Und wenn doch, was hat sie möglicherweise gedacht? Irgendein neues Waffensystem, irgendwelche durchgebrannte Elektronik, irgendein unerklärliches Teil der komplizierten Welt ist kaputtgegangen. Es steht ihr nicht zu, etwas darüber zu wissen oder Fragen zu stellen. Sie wurde nur davon berührt, als Stadt und Land plötzlich vom Bildschirm verschwand. Oder hat sie aufgeblickt und eine ganz andere Wahrheit gesehen, das Jyotirlinga, die zeugende Kraft von Shiva, die in einer Lichtsäule aus der Erde hervorbrach, die sie nicht mehr halten konnte.
    Sie betrachtet Thomas Lull, der neben ihr auf dem warmen Stein sitzt, die Knie angezogen, die Arme darum geschlungen. Er blickt über den Fluss auf die phantastischen Wolkengebirge. Er hat wenig gesagt, seit Rhodes von der Botschaft ihre Freilassung aus der Arrestzelle des Ministeriums unterzeichnet hat, einem umfunktionierten Konferenzraum, aus dem man alle Tische und Stühle ausgeräumt hatte, vollgestopft mit schlecht gelaunten Geschäftsleuten, resoluten Grameen-Frauen und wütenden Forschern von Ray Power. Die Luft zischte vor lauter Anrufen bei Rechtsanwälten.
    Thomas Lull hatte nicht einmal geblinzelt. Der Wagen hatte sie am Haveli abgesetzt, aber dann wandte er sich vom verzierten Holztor ab und lief hinaus in das Labyrinth aus Gassen und Straßenmärkten, das zu den Ghats hinunterführt. Lisa hatte nicht versucht, ihn aufzuhalten oder ihn zu fragen oder mit ihm zu reden. Sie beobachtete, wie er die Treppen hinauf- und hinunterstieg, wie er hin und her lief, um nach der Stelle zu suchen, wo die Füße das Blut in den Stein getreten
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