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Cyberabad: Roman (German Edition)

Cyberabad: Roman (German Edition)

Titel: Cyberabad: Roman (German Edition)
Autoren: Ian McDonald
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sie die Zukunft von Nationen vorhersagen. Sie erleuchten der Frau den Weg. Sie enthüllen ein Gesicht im mittleren Lebensalter. Ein Gesicht aus der Menge, ein Gesicht, das niemand vermissen wird, falls überhaupt irgendein Gesicht unter den elf Millionen Stadtbewohnern unersetzbar ist. Fünf Menschengruppen dürfen nicht an den Verbrennungsghats eingeäschert werden, sondern werden in den Fluss geworfen: Leprakranke, Kinder, schwangere Frauen, Brahmanen und jene, die von der Königskobra vergiftet wurden. Ihr Bindi verrät, dass sie zu keiner dieser Kasten gehört. Unsichtbar gleitet sie am Gedränge der Touristenboote vorbei. Ihre blassen Hände sind weich und nicht an Arbeit gewöhnt.
    Scheiterhaufen brennen am Manikarnika Ghat. Trauernde tragen eine Bambusbahre die mit Asche bestreuten Stufen hinunter und über den rissigen Schlamm zum Flussufer. Sie tauchen die in Safran gehüllte Leiche ins erlösende Wasser und waschen sie, damit kein Körperteil unberührt bleibt. Dann wird sie zum Scheiterhaufen gebracht. Während die unberührbaren Doms, die am Verbrennungsghat arbeiten, Holz auf das Leinenbündel häufen, durchsieben Gestalten, die hüfttief im Ganges stehen, das Wasser mit flachen Weidenkörben, um das Gold aus der Asche der Toten zurückzugewinnen. An diesem Ghat, wo der Schöpfer Brahma einst zehn Pferde opferte, wird Mutter Ganga jeden Abend von Brahmanen ein Aarti-Opfer dargebracht. Ein Hotel in der Stadt zahlt jedem von ihnen für dieses Ritual zwanzigtausend Rupien pro Monat, doch das tut dem Eifer ihrer Gebete keinen Abbruch. Bei diesem Puja bitten sie mit Feuer um Regen. Seit drei Jahren hat es keinen Monsun mehr gegeben. Nun verwandelt der frevlerische Awadhi-Damm bei Kunda Khadar auch das letzte Blut in den Adern von Ganga Mata zu Staub. Selbst die Religionslosen und Agnostiker werfen inzwischen ihre Rosenblütenblätter auf den Fluss.
    Auf dem anderen Fluss, dem Fluss der Reifen, der keine Trockenheit kennt, lenkt Yogendra den großen Mercedes durch die Mauer aus Lärm und Bewegung, die Varanasis ewiges Chakra des Verkehrs bildet. Seine Hand löst sich nie mals von der Hupe, während er hinter Phatphats ausschert, um Fahrradrikschas herumkurvt, auf die falsche Straßenseite wechselt, um einer Kuh auszuweichen, die an einem alten Unterhemd kaut. Shiv ist allen Verkehrsregeln gegenüber immum; nur eine Kuh würde er niemals überfahren. Straße und Gehwege verwischen sich: Verkaufsstände, Garküchen, Tempel und Schreine, die mit Girlanden aus Tagetes behangen sind. Freien Lauf für unseren Fluss! , erklärt das handgeschriebene Transparent eines Mannes, der gegen den Damm demonstriert. Eine Gruppe von Callcenter-Jungen in ihren besten sauberen Hemden und Hosen ist auf der Jagd und ergießt sich in den Weg des Geländewagens. Fettige Hände auf der Lackierung. Yogendra beschimpft sie laut für diese Frechheit. Der Strom auf den Straßen wird schmaler und gedrängter, bis die Frauen und Pilger sich an Mauern und in Eingänge drücken müssen, um Shiv durchzulassen. In der Luft hängt der berauschende Dunst von Alkosprit. Es ist ein Triumphzug, eine Machtdemonstration. Shiv hält das kalte Metallfläschchen im Schoß und zieht in die Stadt ein, der er entstammt.
    Am Anfang war Kashi, die Erstgeborene der Städte, die Schwester von Babylon und Theben und ihre einzige Überlebende, die Stadt des Lichts, wo Shivas Jyotirlinga, die göttliche Zeugungsenergie, in einer strahlenden Säule aus der Erde hervorbrach. Dann wurde sie Varanasi, die heiligste aller Städte, der Gemahl der Göttin Ganga, die Stadt des Todes und der Pilger. Sie überdauerte Imperien und Königreiche und Rajs und große Nationen, sie floss durch die Zeit, wie ihr Strom durch die große Ebene Nordindiens fließt. Dahinter wuchs New Varanasi empor, die Bollwerke und Festungen der neuen Wohnanlagen und die gläsernen, eleganten Firmenzentralen, die sich hinter den Palästen und engen, verworrenen Straßen auftürmen, um globale Dollars in den bodenlosen Arbeitsmarkt Indiens zu pumpen. Dann folgte eine neue Nation, und das alte Varanasi wurde wieder zum legendären Kashi, dem Nabel der wiedergeborenen Welt, dem neuesten Fleisch-Ginza Südasiens. Es ist eine Stadt der Schizophrenien. In den überfüllten Straßen drängen sich Pilger und japanische Sextouristen. Trauernde tragen ihre Toten an den Käfigen mit jugendlichen Huren vorbei. Magere Leute aus dem Westen, mit Bindi und Bart den Einheimischen angepasst, bieten Kopfmassagen an,
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