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Cyberabad: Roman (German Edition)

Cyberabad: Roman (German Edition)

Titel: Cyberabad: Roman (German Edition)
Autoren: Ian McDonald
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während Yogendra ihn durch den Verkehr befördert.

2 Mr. Nandha
    Mr. Nandha, der Krishna Cop, reist an diesem Morgen mit dem Zug. Er ist der einzige Fahrgast im Wagen der ersten Klasse. Er fährt mit dem elektrischen Shatabdi-Express der Bharat Rail, der mit dreihundertfünfzig Stundenkilometern über die Hochgeschwindigkeitsstraße rast und sich in den sanften Kurven neigt. Dörfer Straßen Felder Städte Tempel fliegen im Morgendunst vorbei, der knietief auf der Ebene liegt. Doch Mr. Nandha sieht nichts davon. Hinter seinem getönten Fenster widmet er seine ganze Aufmerksamkeit den virtuellen Seiten der Bharat Times . Artikel und Videobeiträge schweben über dem Tisch, während der Leichthoek Daten in sein Sehzentrum schießt. In seinem Hörzentrum spielt die Marienvesper von Monteverdi, aufgeführt von der Camerata di Venezia und dem Chor von San Marco.
    Mr. Nandha ist ein großer Liebhaber italienischer Renaissancemusik. Er ist von jeglicher Musik der humanistischen Tradition Europas aufs Höchste fasziniert. Mr. Nandha betrachtet sich als Renaissancemensch. Auch wenn er Nachrichten über das Wasser und den möglichen Krieg und die Demonstrationen rund um die Hanuman-Statue und die geplante Metrostation am Sarkhand Roundabout und die Skandale und den Klatsch und die Sportmeldungen liest, visualisiert ein Teil seines Sehzentrums, den der Leichthoek niemals erreichen kann, die Piazze und Campanili von Cremona im siebzehnten Jahrhundert.
    Mr. Nandha war noch nie in Cremona. Er ist noch nie nach Italien gereist. Seine Vorstellungen entstammen Großaufnahmen des Planet History Channel, seinen eigenen Erinnerungen an seine Geburtsstadt Varanasi und an Cambridge, der Stadt seiner intellektuellen Wiedergeburt.
    Der Zug rast an ländlichen Ziegelgebäuden vorbei, wo sich Ofenrauch über die Nebelschicht gelegt hat. Die Reihen aufgestapelter Ziegel sind wie die Ruinen einer ungeborenen Zivilisation. Kinder stehen daneben und starren, die Hände zum Gruß erhoben, benommen von der Geschwindigkeit. Nachdem der Zug vorbeigefahren ist, klettern sie auf das Gleisbett und suchen nach den Paisa-Münzen, die sie in die Fugen zwischen den Schienen gesteckt haben. Die schnellen Züge walzen sie zu flachen Scheiben auf den Gleisen. Man könnte sich etwas mit diesen Münzen kaufen, aber nichts davon wäre so gut wie der Anblick des Metallflecks auf der Hochgeschwindigkeitsstrecke.
    Der Chai-Wallah schwankt durch den Waggon.
    »Sahb?«
    Mr. Nandha reicht ihm einen Teebeutel, der an einem Faden baumelt. Der Steward verbeugt sich, nimmt den Beutel entgegen, legt ihn in einen Plastikbecher und lässt kochendes Wasser aus dem Biggin fließen. Mr. Nandha schnuppert am Tee, nickt und gibt dem Wallah den feuchten, warmen Teebeutel. Mr. Nandha leidet unter schlimmen Hefeinfektionen. Der Chai ist eine ayurvedische Rezeptur, die speziell für ihn gemischt wurde. Außerdem meidet Mr. Nandha Cerealien, Obst, fermentierte Nahrung einschließlich Alkohol, viele Sojaprodukte und sämtliche Milcherzeugnisse.
    Der Anruf hatte ihn um vier Uhr nachmittags erreicht. Mr. Nandha war soeben eingeschlafen, nachdem er angenehmen Sex mit seiner schönen Ehefrau gehabt hatte. Er versuchte, sie nicht zu stören, aber sie hatte noch nie schlafen können, wenn er wach war. Also war sie aufgestanden, um seine Reisetasche zu holen, die der Dhobi-Wallah unter ihrer Aufsicht stets mit sauberer, gebügelter Kleidung bestückt. Dann begleitete sie ihn zum Dienstwagen. Der Wagen nahm eine separate Zufahrt zum Bahnhof, um das Gedränge der Phatphats und Rikschas zu meiden, die auf den Nachtzug aus Agra warteten, und brachte Mr. Nandha durch den Rangierbahnhof zum Bahnsteig, an dem der lange, schlanke elektrische Zug bereitstand. Ein Angestellter der Bharat Rail führte ihn zu seinem reservierten Platz im reservierten Waggon. Dreißig Sekunden später glitt der Zug aus der Kashi Station. Die gesamten dreihundert Meter waren nur für den Krishna Cop aufgehalten worden.
    Mr. Nandha erinnert sich an den Sex mit seiner Frau und ruft sie mit dem Palmer an. Sie erscheint in seinem Sehzentrum. Es überrascht ihn nicht, sie auf dem Dach vorzufinden. Seit Beginn der Arbeit am Garten hat Parvati immer mehr Zeit oben auf dem Apartmentblock zugebracht. Hinter dem Betonmischer und den Haufen aus Steinen und Säcken mit Kompost und Rohren für die Tröpfchenbewässerung kann Mr. Nandha die ersten Lichter in den Fenstern der umliegenden Mietshäuser an den schmalen Straßen erkennen.
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