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Cyber City

Cyber City

Titel: Cyber City
Autoren: Greg Egan
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immer geschlossen, packte er den Griff der Reißleine.
    Ich bin nichts weiter als ein Traum … ein flüchtiger, bald vergessener Traum.
    Seine Fingernägel mußten dringend geschnitten werden. Sie bohrten sich schmerzhaft in die Handflächen.
    Hatte er noch nie während eines Traums das alles zunichte machende Erwachen gefürchtet? Vielleicht … aber ein Traum war etwas anderes als das Leben.
    Wenn die einzige Möglichkeit, seinen Körper, seine Welt wieder in Besitz zu nehmen, darin bestand, aufzuwachen und zu vergessen …
    Er zog die Reißleine.
    Einige Sekunden später seufzte er unterdrückt – mehr ein Geräusch der Verwirrung als eine Gefühlsäußerung – und öffnete die Augen.
    Der Griff hatte sich von der Leine gelöst.
    Benommen starrte er auf diese Metapher für … wofür eigentlich? Für einen Fehler in der Löschsoftware? Für einen Prozessor, der durchgebrannt war?
    Nun hatte er wirklich das Gefühl, in einen Traum geraten zu sein. Er streifte die Gurte ab und öffnete das sauber gepackte Bündel.
    Er fand nicht den Hauch einer Simulation von Seide oder Kevlar oder was immer man erwarten würde. Nur ein Blatt Papier. Eine Nachricht.
     
    Lieber Paul,
    in der Nacht nach dem Scan habe ich noch einmal gründlich über die Vorbereitung und Planung des Projekts nachgedacht, auch über mich selbst – kritischer und ehrlicher als je zuvor. Ich kam zu dem Schluß – buchstäblich in letzter Minute –, daß meine eigene Haltung durch Zweifel an den Erfolgsaussichten vergiftet war.
    Im nachhinein ist mir klar geworden, wie albern meine Befürchtungen waren – aber für dich kam die Erkenntnis zu spät.
    Ich konnte es mir nicht leisten, dich zu löschen und mich ein weiteres Mal scannen zu lassen. Was war zu tun?
    Folgendes: Ich habe dein Erwachen hinausgezögert und mir jemanden gesucht, der einige Änderungen an den Dienstprogrammen der virtuellen Umgebung vornahm. Ich weiß, das ist nicht ganz legal … aber du weißt selbst am besten, wie wichtig es für mich … für uns ist, daß wir diesmal Erfolg haben.
    Ich vertraue darauf, daß du mich verstehst – und ich bezweifle nicht, daß du die Situation mit Würde und Gelassenheit akzeptieren wirst.
    Alles Gute
    Paul
     
    Er sank auf die Knie und starrte ungläubig auf das Blatt Papier in seinen Händen …
    Das kann ich nicht getan haben!
    Nie könnte ich so gemein und skrupellos sein!
    Oder doch?
    Einem fremden Menschen hätte er das nicht antun können, soviel stand fest. Er war kein Monstrum, kein Folterknecht, kein Sadist.
    Und er selbst würde nie ein solches Experiment wagen, ohne sich als letzten Rettungsanker die Aussteigen-Option zu lassen. Daß er sich in seinen Träumen als stoische, ja, heroische Kopie sah – ein Muster an Pflichterfüllung – oder sich mit dem Gedanken tröstete, daß jenem Paul aus Fleisch und Blut schon kein Haar gekrümmt werde, was immer geschehen würde, war eine Sache. Die andere war, daß es daneben auch Momente der Klarheit gegeben hatte, in denen er sich diese eine, simple Tatsache immer wieder vor Augen hielt: Wenn es wirklich so unerträglich werden sollte, kann ich jederzeit ein Ende machen …
    Aber eine Kopie von sich anzufertigen und ihr dann – wenn ihre Zukunft nicht mehr die seine war, wenn er nichts mehr zu befürchten hatte – jede Möglichkeit des Rückzugs zu nehmen … und diese Vergewaltigung auch noch als einen Sieg des Willens über die Angst darzustellen …
    … Das kam ihm nur zu bekannt vor. Beschämt senkte er den Kopf.
    Dann ließ er das Papier fallen, warf den Kopf in den Nacken und schrie, so laut es seine nichtexistierenden Lungen zuließen: »DURHAM! DU VERDAMMTER Wichser!!!«
     
    Paul war danach zumute, das Mobiliar des Zimmers zu zerschlagen. Statt dessen ging er unter die Dusche, drehte das heiße Wasser auf und ließ es endlos lange an sich herabströmen. Teilweise, um sich zu beruhigen, und außerdem, weil ein kleines bißchen schäbiger Rache immer noch besser war als gar nichts: Zwanzig subjektive Minuten umfangreichster hydrodynamischer Berechnungen würden diesen Geizhals fast zu Tode ärgern. Kritisch beäugte er die Tropfen und Rinnsale auf seiner Haut, suchte nach kleinen, aber wahrnehmbaren Unstimmigkeiten, wo sein Körper – präzise berechnet bis hin zu subzellularen Prozessen – mit der viel grober simulierten Umgebung in Wechselwirkung trat. Wenn es Diskrepanzen gab, waren sie jedenfalls zu klein, um ihm aufzufallen.
    Er zog sich an und nahm ein spätes
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