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Cyber City

Cyber City

Titel: Cyber City
Autoren: Greg Egan
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Ellbogen. Seine Empfindungen drohten ihn noch mehr an diesen Körper zu fesseln, an diesen Ort zu bannen – und genau das mußte er im Augenblick um jeden Preis vermeiden.
    Ächzend ließ er sich wieder auf den Boden hinab. Er war eine Kopie. Was immer das von seinem Original stammende Gedächtnis ihm einzureden versuchte – er war nicht länger Mensch, würde nie wieder einen wirklichen Körper besitzen, nie wieder die wirkliche Welt bewohnen … es sei denn, sein sparsames Original würde das Geld für einen Telepräsenzroboter erübrigen – was zur Folge hätte, daß er seine Tage wie in einem Nebel herumtappend verbringen würde in dem Versuch, irgend etwas vom Treiben echter Menschen mitzubekommen, die rasend schnell um ihn herumwirbelten. Sein Quasigehirn arbeitete siebzehnmal langsamer als ein echtes.
    Ja, natürlich, wenn er sich geduldete; schließlich würde die Technik eines Tages soweit sein … und sein Quasigehirn siebzehnmal schneller als das Original. Und in der Zwischenzeit? Da würde er in diesem Gefängnis verrotten, brav Männchen machen, wenn man es verlangte, die Experimente zu Durhams großem Projekt über sich ergehen lassen – während dieser Kerl in seiner Wohnung lebte, sein Geld ausgab, mit Elisabeth schlief …
    Verwirrt lehnte Paul sich an die angenehm kühle Fläche des Interface. Ihm war schwindlig geworden. Wessen großes Projekt? Er selbst hatte dies um jeden Preis gewollt – und war sehenden Auges vorangeschritten. Niemand hatte ihn gezwungen, niemand hatte ihn mit falschen Versprechungen dazu verleitet. Er hatte gewußt, welche Last er auf sich nahm – natürlich hatte er auch geglaubt, willensstark genug zu sein (dieses Mal wenigstens), um damit fertig zu werden; daß er sich mit mönchischer Hingabe ganz der Sache widmen würde, derentwillen er sich in diese Situation begeben hatte … und daß es ein Trost sein würde zu wissen, daß sein anderes Ich so frei und ungezwungen blieb wie zuvor.  –
    Im Rückblick erschien ihm diese Hoffnung lächerlich. Ja, er hatte sich frei und ohne Zwang entschieden – zum fünften Mal jetzt –, aber nun war es an der Zeit, sich einzugestehen, daß er sich die Konsequenzen niemals wirklich bewußt gemacht hatte. Während der ganzen Zeit, die er mit Vorbereitungen auf das ›Leben‹ als Kopie verbrachte, hatte er immer nur im Auge gehabt, welche Aussichten sich durch das Experiment für den Mann draußen ergaben. Er hatte sich eingeredet, daß er alle Möglichkeiten dieser Existenz nutzen wollte, die einem normalen Menschen vorenthalten waren – als eine Art Stellvertreter –, und zweifellos hatte er sich auch von Anfang an darum bemüht … aber getröstet hatte er sich mit dem Gedanken, draußen weiterzuexistieren – daß es, was auch kommen sollte, eine Zukunft für ihn gab.
    Und wer sich an diesen tröstlichen Gedanken klammerte, konnte einfach nicht begreifen, welches Schicksal eine Kopie erwartete.
    Die Leute kamen nicht damit zurecht, sich plötzlich in eine Kopie verwandelt zu sehen. Paul kannte die Statistiken. Achtundneunzig Prozent der Kopien waren uralte Greise oder Menschen im Endstadium einer unheilbaren Krankheit gewesen. Viele von ihnen hatten vorher Millionen ausgegeben und alle bekannten Methoden der Medizin ausgeschöpft – nun griffen sie nach dem letzten rettenden Strohhalm. Viele von ihnen starben bereits unmittelbar nach dem Scan, noch bevor die Kopie in Betrieb genommen war. Fünfzehn Prozent der Kopien kamen innerhalb der ersten paar Stunden nach dem Aufwachen zu dem Schluß, daß diese Form der Existenz unerträglich war.
    Und die Jungen, die bei bester Gesundheit waren – die es aus reiner Neugier taten und wußten, daß draußen ein gesunder, atmender, lebender Körper auf sie wartete?
    Ihre Quote lag bei einhundert Prozent, wenigstens bisher.
    Paul stand in der Mitte des Zimmers und fluchte minutenlang halblaut vor sich hin; bewußt erlebte er die verstreichende Zeit. Eigentlich war er nicht bereit für das, was nun kommen mußte – aber je länger die anderen Kopien gewartet hatten, desto traumatischer hatten sie den unumgänglichen Entschluß empfunden.
    Er starrte auf das vor ihm schwebende Interface; dieses Phantasiegebilde, ein Ding wie aus einem Traum, machte es ein wenig einfacher. Er erinnerte sich kaum je an seine Träume, und auch diesen hier würde er vergessen – es war keine Tragödie.
    Ihm wurde bewußt, daß er nackt war. Die Macht der Gewohnheit – wenn nicht ein absurdes Bedürfnis
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