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Cyber City

Cyber City

Titel: Cyber City
Autoren: Greg Egan
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nach Schicklichkeit – drängte ihn, sich etwas anzuziehen, doch er widerstand. Ein oder zwei alltägliche, harmlos scheinende Verrichtungen wie diese, und er konnte gar nicht mehr anders, als diese Situation und sich selbst ernst zu nehmen. Und wenn er sich erst für real hielt, würde alles nur noch schwieriger werden …
    Er wanderte im Zimmer umher, betastete den kühlen Türknopf aus Metall und widerstand der Versuchung, daran zu drehen. Es war zwecklos, diese Welt erkunden zu wollen; selbst die ersten, kleinen Schritte konnte er sich sparen.
    Das Bedürfnis, aus dem Fenster zu schauen, ließ sich jedoch nicht unterdrücken. Der Blick über den Norden Sydneys war fehlerfrei; Gebäude, Radfahrer, Bäume, alles wirkte täuschend echt – aber das war kein Kunststück. Eine Videoaufzeichnung, ähnlich einer Folge fotografischer Bilder, auch wenn sie im Computer aufbereitet und mit neuen Details versehen worden waren – eine unveränderliche, in jeder Weise festgelegte Komposition. Um noch mehr Kosten zu sparen, war nur ein winziger Teil »physikalisch« zugänglich; zwar konnte er in der Ferne den Hafen sehen, aber jeder Versuch, vielleicht einen Spaziergang am Meer entlang zu machen …
    Genug. Ich muß es hinter mich bringen.
    Paul wandte sich dem Interface zu und berührte ein Sinnbild mit der Bezeichnung DIENSTPROGRAMME. Vor dem Interface öffnete sich ein weiteres Fenster. Die gewünschte Funktion war in einem von vielen Untermenüs versteckt, aber er wußte ganz genau, wo er suchen mußte. Er hatte von draußen schon zu oft zugesehen, um es vergessen zu können.
    Schließlich hatte er sich zum NOTFALL-Menü vorgearbeitet, in dem ein lustiges Sinnbild in Gestalt einer Karikatur zum Vorschein kam, die an einem Fallschirm schwebte.
    Man bezeichnete den Vorgang als Aussteigen, was seiner Meinung nach zu beschönigend klang – andererseits konnte er kaum Selbstmord verüben, wenn er rechtlich gesehen gar kein Mensch war. Daß eine Aussteigen-Option überhaupt vorhanden war, hatte nichts mit dem problematischen Rechtsstatus von Kopien zu tun, sondern nur mit international vereinbarten Softwarestandards.
    Paul tippte das Sinnbild an; es erwachte zum Leben und rezitierte irgendeinen warnenden Sermon. Er hörte kaum hin. Schließlich endete der Spruch mit den Worten: »Sind Sie sicher, daß Sie wirklich diese Kopie von Paul Durham löschen wollen?«
    Kinderleicht. Programm A fordert von Programm B die ordnungsgemäße Bestätigung des Löschvorgangs. Nur ein Austausch von Datenpaketen.
    »Ja, ich bin sicher.«
    Eine kleine rotlackierte Blechkiste erschien vor seinen Füßen. Er öffnete sie, nahm den Fallschirm heraus und schlüpfte in die Gurte.
    Dann schloß er die Augen und sagte: »Hör mir zu. Hör mir einfach nur zu! Wie oft muß man es dir denn sagen? Das mit dieser verfluchten Angst laß ich einfach aus, das hast du schon oft genug gehört – und jedesmal ignoriert. Es spielt eben keine Rolle, wie ich mich fühle. Aber … wann wirst du endlich aufhören, deine Zeit zu verschwenden, dein Geld, deine Kraft – wann wirst du aufhören, dein Leben zu vergeuden? Du bist nicht stark genug, das hier zu Ende zu bringen.«
    Paul zögerte. Er versuchte sich vorzustellen, wie seine Worte in den Ohren des Originals klingen mußten, versetzte sich in seine Lage – und wäre vor Enttäuschung fast in Tränen ausgebrochen. Egal was er sagte, er konnte nicht wissen, ob es einen Unterschied machte. Er selbst hatte schließlich jeden noch so beschwörenden Appell seiner früheren Kopien mit einem Achselzucken abgetan, hatte ihren Behauptungen keinen Glauben geschenkt, daß sie ihn besser kennen würden als er sich selbst. Daß sie die Nerven verloren hatten und ausgestiegen waren hieß doch nicht, daß es niemals eine Kopie von ihm geben konnte, die sich anders entschied. Alles, was er zu tun hatte, war, sich in seinem Entschluß zu bestärken und es erneut zu versuchen …
    Er schüttelte den Kopf. »Zehn Jahre hat es gedauert, und nichts hat sich getan. Was denkst du dir bloß dabei? Glaubst du wirklich noch, du bist mutig – oder verrückt – genug, dein eigenes Versuchskaninchen zu spielen? Glaubst du das wirklich?«
    Er zögerte wieder, doch nur kurz; er erwartete keine Antwort. Er hatte einen langen, harten Streit mit der ersten Kopie gehabt, und es war ihm so auf den Magen geschlagen, daß ihm danach stets der Mut dazu gefehlt hatte.
    »Na schön, ich verrate dir ein Geheimnis: Du bist es nicht!«
    Die Augen noch
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