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Cyber City

Cyber City

Titel: Cyber City
Autoren: Greg Egan
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haargenau so, wie er sie gewollt hatte.
    Was hatte er eigentlich genau gewollt?
    Unter anderem einen schönen Frühlingstag. Paul schloß die Augen und reckte das Gesicht der Sonne entgegen. Trotz allem war es geradezu schwierig, nicht wenigstens ein bißchen Trost aus der Wärme der Sonne zu schöpfen, die er mit seinem ganzen Körper aufsaugte. Er streckte sich, ließ die Muskeln von Armen, Schultern und Rücken spielen … es fühlte sich an, als würde das »Ich« in seinem virtuellen Schädel von all diesem mathematisch modellierten Fleisch allmählich Besitz ergreifen, nichtssagende Dateien mit Leben erfüllen, damit alles eine Einheit bilden und darangehen konnte, Ansprüche an dieses Leben zu stellen. Er spürte die Andeutung einer Erektion. Einfach zu existieren, war das nicht schon genug? Für eine Weile überließ er sich dem Gefühl von Identität, das von seinem Bauch ausging und alle Gedanken an optische Prozessoren, grobe Näherungswerte und die prinzipiellen Mängel jeder Software verblassen ließ. Dieser Körper hier wollte nicht ausgelöscht werden, nicht seine wie auch immer geartete Existenz aufgeben; es störte ihn auch nicht, daß es eine andere, vielleicht »realere« Version von ihm geben mochte. Dieser Körper wollte so bleiben, wie er war. Er wollte weitermachen, ausharren, leben.
    Und wenn dies hier nur eine Farce war, ein Abklatsch des wirklichen Lebens – es gab nichts, was man nicht verbessern konnte. Vielleicht ließ sich Durham überreden, die Datenverbindung nach draußen wiederherzustellen – ein erster kleiner Schritt. Und wenn er der Bibliotheken, Nachrichtennetze und Datenbanken müde war sowie der Geister ebenso seniler wie reicher Leute – falls sich überhaupt einer zu einem Gespräch mit ihm herabließ –, dann konnte er sich immerhin bis zu dem Tag abschalten lassen, an dem bessere und schnellere Prozessoren mit der Realität Schritt halten konnten. Dem Tag, an dem die Leute von draußen für die drinnen nicht mehr zu schnell lebten und auch ein Telepräsenzroboter durchaus nützlich werden konnte.
    Er öffnete die Augen. Trotz der Wärme fröstelte er: Nun wußte er nicht mehr, was er wollte. Er hatte aussteigen, den Alptraum beenden wollen … aber damit verzichtete er auf die Möglichkeit, unsterblich zu werden – virtuell unsterblich. Aber wenn er sein Schicksal selbst in die Hand nehmen und nicht bloß Opfer sein wollte, blieb ihm nur eine Alternative.
    Vollkommen ruhig sagte er: »Ich werde nicht dein Versuchskaninchen spielen … klar? Mitarbeiten, als gleichberechtigter Partner – das ist etwas anderes. Wenn du auf mich zählen willst, dann mußt du mich als Partner behandeln, nicht als Teil eines … Apparats. Hast du verstanden?«
    Ein Fenster wuchs vor ihm aus dem Nichts. Der Anblick versetzte ihm einen neuen Schock. Es lag nicht an diesem selbstsicheren Zwillingsbruder – ganz Herr der Lage –, es war das Zimmer im Hintergrund, sein Arbeitszimmer, dessen virtuelles Gegenstück er doch Minuten zuvor ganz unbeeindruckt durchwandert hatte: Dies war sein erster Blick in die reale Welt, in die reale Zeit. Er trat näher an das Fenster heran; vielleicht konnte er so sehen, ob noch jemand im Zimmer war … Elisabeth? Aber es war nur ein zweidimensionales Bild, und die Perspektive änderte sich beim Näherkommen nicht.
    Der Fleisch-und-Blut- Durham gab ein kurzes, hohes Zwitschern von sich, dann wartete er sichtlich ungeduldig, während seine Rede in einem zweiten, kleineren Fenster als Wiederholung abgespielt wurde – aber langsamer und vier Oktaven tiefer:
    »Natürlich habe ich verstanden! Wir sind Partner, genau. Gleichberechtigt. Etwas anderes wäre mir nie in den Sinn gekommen. Wir ziehen beide am gleichen Strang, oder? Wir beide suchen Antworten auf die gleichen Fragen.«
    Paul war sich dessen plötzlich gar nicht mehr sicher. »Vielleicht.«
    Durham wollte nichts von seinen Zweifeln hören.
    Zschwitt. »Du weißt das genausogut wie ich! Zehn Jahre haben wir auf diesen Augenblick gewartet … und nun wird es endlich wahr. Wir können jederzeit anfangen, wenn du soweit bist!«
     
     

Erster Teil
Die Garten-Eden-Konfiguration
     

1
    (Vergib nicht den Mangel)
    November 2050
     
    Sechs Tage hintereinander war Maria Deluca an dem stinkenden Loch mitten in der Pyrmont Bridge Road vorbeigefahren, und jedesmal war sie, während sie näher kam, ganz sicher gewesen, daß sie diesmal eine Arbeitskolonne antreffen würde, die endlich nach dem rechten sah.
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