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Cyber City

Cyber City

Titel: Cyber City
Autoren: Greg Egan
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Grundriß war ihr vertraut wie ihre Westentasche. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals etwas in diesem Haus verlegt zu haben. Sie hätte die Enge mit niemandem teilen können, aber für sie allein war es genau das Richtige. Außerdem war sie der Meinung, daß eine Wohnung in gewisser Weise wie ein Fahrzeug war, mit dem man sich nicht physisch, aber geistig fortbewegte. Und verglichen mit einer Ein-Mann-Raumkapsel oder einem U-Boot war das Platzangebot mehr als üppig.
    Oben im Schlafzimmer, das gleichzeitig ihr Arbeitszimmer war, schaltete Maria das Terminal ein und überflog eine Zusammenfassung der Nachrichten, die seit dem letzten Mal in ihrem elektronischen Postkasten eingegangen waren. Einundzwanzig Anrufer hatten sich gemeldet, und alle Sendungen waren als »Reklame« eingestuft. Keine Nachricht von Freunden oder Bekannten und erst recht kein Angebot einer bezahlten Arbeit. Ihr persönliches Postfilterprogramm KAMELAUGE hatte sechs Spendenaufrufe für wohltätige Zwecke identifiziert (jeder wäre eine Spende wert gewesen, doch Maria konnte sich Mitleid nicht leisten), fünf Lotterien und Preisausschreiben, sieben Versandhauskataloge (die damit prahlten, speziell auf ihre Bedürfnisse und Wünsche zugeschnitten zu sein – aber KAMELAUGE hatte sie durchgesehen und nichts von Interesse finden können), drei Interaktiveos.
    »Einfache« audiovisuelle Botschaften wurden allgemein in gebräuchlichen, leicht zu lesenden transparenten Datenformaten verschickt; Interaktiveos dagegen waren ausführbare Programme, in Maschinensprache codiert und verschlüsselt. Sie waren absichtlich so konzipiert, daß es leichter für ein menschliches Gegenüber war, mit ihnen zu kommunizieren, als von dessen Postfilterprogrammen überprüft zu werden. KAMELAUGE hatte alle drei Interaktiveos laufen gelassen (auf einem doppelt abgeschirmten virtuellen Rechner – der Simulation eines Rechners in einem simulierten Rechner) und ihnen vorzumachen versucht, daß sie mit der echten Maria Deluca zu tun hatten. Zwei von ihnen – Altersvorsorge und Krankenversicherung – waren darauf hereingefallen. Doch das dritte hatte irgendwie seine Umgebung erkannt und sich gegen weiteren Zugriff gesperrt, bevor KAMELAUGE etwas von Belang erfahren konnte. Theoretisch hätte KAMELAUGE das Programm dekompilieren und herausfinden können, was es gesagt hätte, wenn es auf KAMELAUGE hereingefallen wäre – aber das würde Wochen dauern. So blieb Maria nur übrig, es entweder ungesehen zu löschen oder sich persönlich damit auseinandersetzen.
    Maria startete das Interaktiveo. Das Gesicht eines Mannes erschien auf dem Bildschirm. »Er« blickte in ihre Augen und lächelte freundlich, und plötzlich war ihr, als wäre da eine gewisse Ähnlichkeit mit Aden. Genug Ähnlichkeit, damit sie für einen kurzen Augenblick mit einer winzigen Veränderung der Mimik reagierte? Eine Reaktion, die ihre von KAMELAUGE erzeugte Softwaremaske nicht gezeigt hätte? Maria wußte nicht, ob sie sich ärgern oder so viel Raffinesse bewundern sollte. Sie und Aden hatten nie eine gemeinsame Wohnung gehabt – aber ganz ohne Frage hatten Datenanalyse-Agenturen gleichzeitig die in ein und demselben Restaurant oder sonstwo benutzten Kreditkarten korreliert, um Partner einer Zielperson zu identifizieren, die in einer eigenen Wohnung lebten. Das soziale Geflecht eines Konsumenten nachzuvollziehen war schon seit Jahrzehnten gängige Praxis bei der Jagd nach neuen Klienten, doch die Daten so einzusetzen war ein neuer Trick.
    Nachdem die Reklame überzeugt war, mit dem menschlichen Adressaten persönlich zu sprechen, begann sie mit dem Sermon, den sie Marias digitalem Abbild verweigert hatte. »Maria … ich weiß, Ihre Zeit ist kostbar, aber ich hoffe, daß Sie mir eine Minute Ihrer Aufmerksamkeit schenken werden.« Das Interaktiveo machte eine kurze Pause, die Maria suggerieren sollte, daß ihr Schweigen eine Art Zustimmung wäre. »Ich weiß auch, daß Sie ein intelligenter Mensch sind, eine Frau mit Ansprüchen, die weiß, was sie will – und die ganz bestimmt nichts im Sinn hat mit jeder Art von Aberglauben, mit den wirren Mythen der Vergangenheit, jenen Märchen, die die Menschheit in ihren Kindertagen zu ihrem Trost erfunden hat.« Maria wußte, was jetzt kommen würde; das Programm las es in ihrem Gesicht – sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich hinter einem Filter zu verstecken – und beeilte sich, einen Fuß in ihre Tür zu stellen. »Aber nicht wahr, kein denkender
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