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Cut

Cut

Titel: Cut
Autoren: Amanda Kyle Williams
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wir gut miteinander aus.
    Er wandte sich von seinem Monitor ab und schaute mich zum ersten Mal an diesem Morgen an. Ich trug Cargoshorts und hatte die Ärmel meines Hemdes bis zu den Ellbogen hochgekrempelt. Meine Unterarme waren nach der etwas schiefgelaufenen Verhaftung noch ziemlich zerkratzt. Neil nippte an seinem Kaffee und musterte mich.
    «Willst du nach Denver und dir den Kerl schnappen?»
    Ich schüttelte den Kopf. «Ich will nur bezahlt werden.»
    «Die wollen mit Sicherheit, dass du hinfährst und holst, was er aus dem Safe geklaut hat, und ich wette, dass es ihnen nicht um das Geld geht. Vielleicht haben sie ihre Bücher frisiert oder Ausschreibungen manipuliert. Wer weiß, vielleicht waren auch Sexvideos im Safe.»
    Ich dachte darüber nach. «Ich fahre trotzdem nicht hin.»
    Er lächelte und schaute mich durch seine blonden Strähnen hindurch müde an. «Hast du Angst, dir einen Nagel abzubrechen?»
    «Ich heiße ja nicht Neil, oder?», konterte ich.
    Einen Augenblick schien es ihm die Sprache zu verschlagen. «Feigling», gab er zurück, und so begann der Tag ganz nach unserem Geschmack mit kindischem Geplänkel.
    Von draußen hörten wir ein lautes Tuten, einen Moment später ging die Tür auf, und Charlie Ramsey kam grinsend in unser Büro. Neil schaute mich lächelnd an. Wir arbeiten nach Vereinbarung, und wenn jemand unangekündigt reinkommt, dann handelt es sich meistens um Charlie, Rauser oder meine Freundin Diane, die ich seit der Schulzeit kenne. Charlie kündigt sein Kommen immer mit der Hupe an seinem Fahrradlenker an. Er ist schätzungsweise Mitte vierzig, arbeitet als Fahrradkurier und hat ungefähr den Verstand eines Zwölfjährigen, weshalb er sehr gut zu uns passt. Charlies Besuche sind immer eine willkommene Ablenkung.
    Im Viertel kursieren eine Menge Geschichten darüber, wie Charlie mit über vierzig auf einem Fahrrad mit Hupe geendet war. Im Grunde klingen alle Geschichten ähnlich: Er hatte einen erstklassigen Job, eine großartige Familie, sein Leben war ein einziger Sonnenschein, bis er an der Ecke 10   t h Street und Peachtree von einem gepanzerten Geldtransporter überfahren und für immer beeinträchtigt wurde. Frau und Kinder liefen ihm davon, Charlie verlor seinen Job und sein Zuhause. Er hat heftige Schmerzen im Nacken, erzählte er mir einmal, außerdem Migräneattacken, die ihn schachmatt setzen. Manchmal kann man ihn kaum verstehen. Wenn er aufgeregt ist, spricht er undeutlich und wird ziemlich laut, und da Charlie mit seinem immer etwas schief sitzenden Fahrradhelm eigentlich recht maulfaul ist, kann ein Gespräch mit ihmein bisschen, nun ja, surreal werden. Gelegentlich scheint er klare Momente zu haben, aber die sind eher selten. Die meiste Zeit ist er einfach ein großes, einfältiges Kind. Einmal habe ich ihn nach seiner Vergangenheit gefragt, und er hat von dem Unfall erzählt. Allerdings spricht er nie über die Zeit
vor
dem Unfall, sondern immer nur über die Zeit
nach
dem Unfall, so als hätte sein Leben erst dann begonnen. In einem seiner seltenen klaren Momente hat er mir erzählt, dass sich das Leben von einer Sekunde auf die andere total verändern kann. Er hat Monate in einem Rehabilitationszentrum verbracht und mitgekriegt, dass die Patienten dort uns Außenstehende die «vorübergehend körperlich Gesunden» nannten, ein weiterer Hinweis darauf, wie veränderlich das Leben ist. Diese Lektion hatte ich schon gelernt, bevor Charlie in unser Leben trat, aber seine Ernsthaftigkeit an diesem Tag werde ich nie vergessen. Wir hatten ihn einige Wochen nicht gesehen und machten uns Sorgen um ihn. Charlie fährt jeden Tag mit seinem Rad durch den tückischen Verkehr in Atlanta und ist, da er nur noch ein halbes Gehirn zu haben scheint, eine Art tickende Zeitbombe. Rauser und Neil haben ständig Wetten am Laufen – einen Zehner, dass er dieses Jahr unter die Räder gerät usw. Ich beteilige mich nicht daran.
    Man weiß nie, wann Charlie auftaucht, es kann am frühen Morgen oder am späten Nachmittag sein, aber normalerweise kommt er mehrmals die Woche vorbei, immer lächelnd und selten ohne ein Geschenk. Im Sommer kann es zum Beispiel sein, dass seine abgewetzte Baseballkappe voller Brombeeren ist. Im Winter pflanzt er Stiefmütterchen in den Blumentopf vor unserer Tür. Zwei Straßen weiter ist eine Gärtnerei, und wir vermuten, dass Charlie die bunten Stiefmütterchen nachts klaut, wenn ihn nur ein anderthalb Meter hoher Drahtzaun von den Beeten trennt. Am
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