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Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Titel: Cristóbal: oder Die Reise nach Indien
Autoren: Erik Orsenna
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zwei Linien, die er geschickt je nach Sonntag abwechselte oder kombinierte.
    Die erste Linie war:
    «Zögert nicht, meine Brüder, und vertreibt diese Beleidigung Gottes! Was wollte der Schöpfer? Eine geordnete Welt, in der jeder seinen Platz hat. Aber seht dieses unreine und zudem noch unverschämte Tier an! Merkt ihr nicht, wie es den göttlichen Willen verhöhnt, indem es die Reiche vermischt? Diese widernatürlicheVerbindung eines Tieres und eines Minerals hat der Teufel geschickt, damit wir die Orientierung verlieren!»
    Die zweite Linie war:
    «Wisst ihr, meine lieben Brüder, woher diese Schreckensgestalt zu uns kommt? Sie kommt aus einem Loch. Ja, meine Brüder, aus einem Loch in der Zeit! Habt ihr je zuvor eine solche Gestalt, eine solche vorzeitliche Haut gesehen? Dieses Tier ist nicht von heute. Und nicht von gestern. Es kommt nicht nur aus der Ferne, es kommt aus dem Abgrund der Zeiten. Und es kommt nicht allein. In seinem Gefolge werden sich durch dieses Zeitloch die schrecklichsten Plagen über uns ergießen, Epidemien, Überschwemmungen, die apokalyptischen Reiter…»
    Gleich, welche Linie der Prediger wählte, sie führte immer zu demselben Schluss: «Lasst uns dieses vergiftete Geschenk verbrennen und mit ihm das Schiff, das es aus der Hölle zu uns gebracht hat. Und lasst uns den Schlund für immer verschließen, aus dem uns das Übel angreift!»
    Die Menge hielt sich mit Beifall zurück, da der Bischof unter Androhung der Exkommunion das Klatschen verboten hatte, und rannte zwei Schritte weiter in die Kirche Igreja São Nicolau.
    «Gelobt sei Gott», erwiderte der andere Geistliche im selben, ebenso energischen Ton. «Ja, lobet den Herrn mit allen Seinen Geschöpfen. Und erweisen wir denjenigen lautstark unsere Dankbarkeit, die sich kühn in die Ferne wagen! Diesen tapferen Kapitänen ist es zu verdanken, dass unsere Kenntnis der Schöpfung und ihrer unermesslichen Vielfalt mit jedem Tag größer wird. Doch jene, die fordern, man solle in dieser Schöpfung aussortieren, prangern wir an als Häretiker. Wer sind wir, dass wir unter den Werken des Schöpfers eine Wahl treffen?»
    Die Zuhörerschaft nickte und wiederholte im Weggehen ganz leise bei sich: Recht hat er. Wer sind wir, dass wir eine Auswahl vornehmen? Einige, die entschlossener waren, kehrten zu Santa Maria Madalena zurück, um die aufkommende Häresie zu bekämpfen. Die Diakone der anderen Meinung erwarteten sie schon. Es kam zu handfesten Auseinandersetzungen.
    In der Hoffnung, die Gemüter durch Zerstreuung zu besänftigen, fassten die Stadtoberen den Entschluss, einen Wettkampf zu arrangieren.
     

    Der Prangerplatz (Largo do Pelourinho) ist bei den Bewohnern Lissabons einer der beliebtesten Plätze. Die Vertreter der Obrigkeit lassen dort Verbrecher, die sie verhaften konnten, aufs Rad binden. Manchmal kommen Henker und brechen ihnen die Glieder mit Stockschlägen. Die Frauen werden ohnmächtig, die Männer klatschen, die Kinder spucken zu ihrem Vergnügen auf die Wunden der Gemarterten: Es herrscht Volksfeststimmung.
    An jenem Tag war das Schauspiel, das sich auf dem Prangerplatz bot, ein ganz anderes. Die Bessergestellten quetschten sich auf die Balkone, die anderen drängten sich an den Fassaden und stiegen der besseren Sicht wegen auf Kisten. Man hatte Palisaden errichtet, die aus dem Platz eine fast perfekte ovale Arena machten. Und in der Mitte stand statt blutverschmierter Räder ein Koloss: die Nase so lang wie der Schwanz, Beine, die vier Bäumen glichen, Ohren größer als ein Sonnenschirm, Hoden dicker als ein Kopf, Köttel höher und breiter als ein Maulwurfshügel. Kurz: ein Elefant. Eine altbekannte Erscheinung seit den entsetzten Berichten der Römer und den Zeichnungen und Gemälden, für die das Tier Modell gestanden hat. Wie schafften es die Karavellen nur, solche Schwergewichte bis nach Lissabon zu transportieren, ohne zu kentern? Wieder einmal muss man das Geschick und den Mut der Seemänner loben.
    Bald erschien auf der gegenüberliegenden Seite sein Gegner: der lebende Fels.
    Zwei mit langen Lanzen bewaffnete Reiter piekten ihn ins Hinterteil, um seinen allzu lahmen Gang anzutreiben. Es gelang ihnen nicht. Die Lanzen prallten ab.
    Nachdem die Menge vor Bestürzung und Entsetzen aufgejohlt hatte, wurde sie ungeduldig.
    Denn anstelle des versprochenen blutigen Schauspiels passierte nichts. Die beiden Tiere dachten gar nicht daran, sich in Bewegung zu setzen.
    Bald flogen immer mehr Wurfgeschosse, Steine,
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