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Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Titel: Cristóbal: oder Die Reise nach Indien
Autoren: Erik Orsenna
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Morgen in eine Dose zu pinkeln.
    Keineswegs vergessen will ich meine Freunde, die Kaninchen und Fische. Denn Ihr müsst wissen, aus den Knochen der einen und den Gräten der anderen gewinnt man die Leime, mit denen man das Vellum und das Pergament bestreicht, bevor man irgendetwas darauf zeichnet.
    Aber ich bin noch nicht am Ende. Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, kommt es mir vor, als hätte ich sie in Gesellschaft von Tieren verbracht.
    Was ist ein Kartograph?
    Einer, der Schnepfen nachstellt.
    Denn diese Vögel tragen in ihrem Gefieder die feinste Feder, die es in der gesamten Schöpfung gibt. Es ist die
Malerfeder.
    Ohne deren feine Spitze würden niemals alle Ortsnamen auf eine Karte passen, und sei sie noch so groß.
    Die echten Jäger wussten, welchen Wert diese kostbaren Tiere für uns besaßen. Sie boten sie uns zu atemberaubenden Preisen an. Besser also, man lauerte ihnen selbst auf. Sobald der Winter anbrach, war es immer die Aufgabe Bartolomeos, ungeachtet seiner von Kindesbeinen an empfindlichen Bronchien, durchs Gehölz zu pirschen oder, schlimmer noch, durch die eisigen Sümpfe zu stapfen.
    Ahnt die Schnepfe, welche verborgene, aber entscheidendeRolle sie bei der Darstellung der Welt spielt? Man könnte meinen, ja. Im Augenblick des Todes sehen ihre Augen einen an, als wäre sie mit ihrem Schicksal einverstanden. Und mit ihrem letzten Zucken streckt sie einem die Flügel entgegen.
     

    Wenn ich es recht bedenke, wimmelte es in dem Lissabon, das ich kannte, von Tieren, und zwar von Tieren aller Art. Die Stadt wurde nicht nur dank der Tiere ernährt, gekleidet, gezeichnet, sie wurde auch von ihnen
verzaubert.
    Eines Tages hatte ich, vertieft in eine besonders klein und genau auszuführende Schönschreibarbeit (auf der klitzekleinen Scheibe der Insel Menorca mussten siebenundzwanzig Namen von Häfen, Dörfern, Kaps und Ankerplätzen untergebracht werden), der allgemeinen Neugier widerstanden und die Ankunft eines neuen Schiffs nicht weiter beachtet. Meister Andrea ließ mich in den Hafen rufen: Ich würde ein außergewöhnliches Ereignis verpassen, ein guter Kartograph sei es sich schuldig, alles zu kennen.
    Ich ließ meine Schnepfenfeder sinken und eilte zu ihm.
    Als ich ankam, versuchte man gerade, mit zwei Flaschenzügen einen riesigen Stein hochzuheben, der auf der Brücke der Karavelle lag. Was für eine seltsame Fracht! Sie sah aus wie ein grauer Felsen, der breiter war als hoch, ein besonderer Felsblock, denn er hatte zwei Augen, ein Maul, vier Pfoten und einen Schwanz. Dieser Felsblock furzte – dergleichen ist, soviel ich weiß, von anderen Felsen nicht bekannt. Ihm war ein kurzes, am Ansatz aber breites Horn gewachsen, das zum Himmel ragte, als wollte es, welch ein Frevel!, dem Allerhöchsten drohen.
    Unter Beifall wurde der lebende Fels hochgehoben, und er schwebte einige Augenblicke durch die Luft, bevor man ihn, ein wenig grob, auf dem Kai absetzte.
    Und nun, während Kinder – trotz der Soldaten, die versuchten, den monströsen Besucher zu beschützen – mit Steinen nach ihm warfen und sich freuten, wenn diese von seiner Panzerhaut abprallten,zitterten die meisten Erwachsenen halb abgestoßen, halb fasziniert und brüllten:
    «Zurück ins Meer mit ihm!»
    «Er wird Unglück über uns bringen!»
    «Der leibhaftige Teufel!»
    «Er bringt uns die Pest!»
    «Oder noch schlimmere Krankheiten!»
    Dieser Trubel ließ das Tier kalt. Es verharrte reglos wie ein Stein, und nur der Auswurf einer grünlichen Masse, die sich, sobald sie auf die Straße fiel, in Schlamm verwandelte, unterbrach in seltsamer Regelmäßigkeit seine Ruhe.
    Um diesen Unbotmäßigkeiten, die auszuarten drohten, ein Ende zu machen, brachte ein Bataillon das Tier gegen Abend an einen sicheren Ort.
    Die Anfeindungen waren damit aber keineswegs beendet. Im Gegenteil. Allen Blicken entzogen, war das Tier nun den wahnhaften Phantasien des Volkes ausgeliefert. Täglich wurde es größer, dämonischer, gefährlicher. Auf der Kanzel lieferten sich zwei Priester ein Gefecht.
    Der Priester der Kirche Santa Maria Madalena sprach sonntags bei der zweiten Messe. Vergessen waren seine üblichen Sonntagspredigten, die jeden langweilten, seine Schmähungen gegen die lasterhaften Gedanken der Frauen und die Maßlosigkeit der Männer. Seine Angriffe gegen das Monster hatten seine Zuhörerschaft schlagartig verzehnfacht. Man prügelte sich geradezu, um seine Tiraden gegen die unheilvolle Erscheinung zu hören.
    Seine Argumentation folgte
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