Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Titel: Cristóbal: oder Die Reise nach Indien
Autoren: Erik Orsenna
Vom Netzwerk:
sie auf Papyrus und gelangte zu folgendem Ergebnis: In der Stadt Alexandria stand die Sonne in einem Winkel von 7° 12’ zur Senkrechten.»
    Während er sprach, zeichnete Meister Andrea, um mir die Dinge besser erklären zu können. In der eisigen Kälte verströmte diese Junigeschichte, diese Sommer-, Sonne- und Schattengeschichte eine merkwürdige Wärme.
    «Der Winkel des Kreises beträgt 360°. 7° 12’ stellen ein Fünfzigstel davon dar. Zu Errechnung des Erdumfangs genügt es also, die Entfernung zwischen Syene und Alexandria mit fünfzig zu multiplizieren. Verstehst du?»
    Ich war ziemlich weit entfernt von jener plötzlichen Ruhe, jenerFlut von Licht, die jedes wahre Verständnis begleiten. Nur von Weitem, meinte ich, dämmerte mir etwas. Ich fasste den Entschluss, alles zu tun, um diesen Lichtschimmer nicht zu verlieren. Dann würde ich vielleicht eines Tages zu diesem Licht gelangen.
    Unbeirrt fuhr Andrea fort. Ich hörte ihn mehr, als ich ihn sah, so dicht war der Nebel, der aus seinem Mund kam.
    «Und jetzt ging es darum, die Entfernung zwischen Alexandria und Syene zu berechnen. Eratosthenes nahm Kamele zur Hilfe. Den Berichten von Reisenden nach benötigten diese wackeren Tiere fünfzig Tage für die Strecke. Ein normales Kamel, das weder langsam noch schnell ging, legte am Tag hundert Stadien zurück. Syene und Alexandria waren also fünfzig mal hundert Stadien voneinander entfernt. Diese Entfernung war der fünfzigste Teil des Erdumfangs, folglich musste dieser fünftausend mal fünfzig, also 250.000 Stadien betragen.»
    Ich will offen sein. Wenn mein Bericht so flüssig klingt, liegt es daran, dass ich seit mehr als vierzig Jahren immer wieder über alles nachdenke. Ich erzähle, wie andere ein Gedicht aufsagen. Das Gedicht des Verstandes auf dessen Gipfel. Doch an jenem Tag verlor ich schnell den Faden. Obwohl ich bei jeder neuen Etappe des Gedankengangs (Übertragung der ägyptischen Stadien in eine portugiesische Maßeinheit, letzte Multiplikationen…) eifrig mit dem Kopf nickte. Andrea beendete seine Ausführungen ohne mich. Ich war verwirrt. Und andere Dinge gingen mir durch den Kopf, Fragen voller Zorn: Warum hatte man mir so lange Zeit falsche Dinge beigebracht? Warum hatte man mir bis zu jenem Tag verheimlicht, dass in Alexandria ein Mann gelebt hatte, der imstande gewesen war, allein mit Hilfe von Schatten und Kamelen die Größe unserer Erde zu bestimmen? Woher rührte die panische Angst der Priester vor der Wahrheit?
    Doch es ist mir wohl gelungen, Meister Andrea hinters Licht zu führen. Bevor er mir eine gute Nacht wünschte, erklärte er seine Zufriedenheit darüber, mit mir einen Lehrling eingestellt zu haben,der zwei gute Eigenschaften besaß, nämlich klein zu schreiben und weit zu denken.
    Dieses unverdiente Kompliment wärmte und wiegte mich bis zum Morgen.
    Ihr habt wahrscheinlich begriffen, dass in Meister Andreas persönlicher Rangordnung der Kartograph einen sehr hohen Platz einnahm, gleich nach dem Schöpfergott. Und man musste ihn nicht besonders drängen, damit er sehr häretische und in diesen Zeiten der beginnenden Inquisition äußerst gefährliche Vorstellungen preisgab: Ohne die Hilfe des Kartographen ist Gott nicht ganz Gott. Was wüsste der Mensch von der Schöpfung ohne Landkarten? Wie soll der Mensch den Schöpfergott feiern können, wenn er keine Kenntnis von der Schöpfung hat? Und was wäre Gott, wenn seine Geschöpfe ihn nicht oder nur unzureichend feierten?
    Solche Gedankenspiele stellte Meister Andrea in den seltenen Augenblicken der Selbstvergessenheit an, abends, wenn er sich, um einen gewinnbringenden Geschäftsabschluss, einen einträglichen Verkauf zu feiern, ein Gläschen Wein genehmigte, den er nicht vertrug. Und stets überfiel ihn dann plötzlich die Angst vor dem, was er aus seinem Mund kommen hörte; er verstummte schlagartig und musterte uns einen nach dem anderen.
    «Ihr glaubt mir hoffentlich kein Wort? Vergesst diesen Blödsinn auf der Stelle!»
    Doch man merkte genau, dass er ausgesprochen hatte, was er im Grunde dachte.
    Dann schlug er wieder frommere Wege ein.
    «Kartographie bedeutet, die Schöpfung zu beschreiben. Eine Karte zu zeichnen ist also ein Gebet.»
    Seine Schwierigkeiten begannen, als er sonntags nach der Messe jeden, der wollte, ob alt oder jung, einlud, in seine Werkstatt zu kommen, um sich Geschichten von Kartographen anzuhören.
    «Einst lebte Hipparchos von Nicäa. Im Jahre 200 vor Christuskam er auf den Gedanken, die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher