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Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Titel: Cristóbal: oder Die Reise nach Indien
Autoren: Erik Orsenna
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die sich sonst nie blicken ließen, kamen heraus: die zerzausten Köchinnen, noch mit ihrem Schöpflöffel in der Hand, Mütter in halbaufgeknöpften Blusen, denen ein Kind an der Brust hing; sabbernde Greise im Hemd, die schon beinahe tot schienen; Liebespaare, die bei ihrem Liebesspiel überrascht worden waren und, so gut es ging, Kleider und Haar im Laufen ordneten; nicht zu vergessen die Katzen, Hunde, Hühner, Puten… Unaufhörlich schwoll die Menge an und kreischte.
    Bald landeten wir am Kai, und in einer einzigen Bewegung hoben wir unsere Arme und deuteten auf den Horizont, als wollten wir einander zeigen, was wir alle sahen.
    Hundert Mal habe ich, begleitet von derselben Menschenmenge, diesem Schauspiel beigewohnt.
    Und bei jedem dieser hundert Male pochte mein Herz unvermindert stark. Jedes Mal fühlte ich mich größer, gewachsen durch die Seereise, deren Ende ich miterlebte und die sogleich ihre Erträge preisgeben würde. Jedes Mal musste ich gegen mich ankämpfen, um nicht ins Wasser zu springen und dem ankommenden Schiff entgegenzuschwimmen.
    Dieses unwandelbare Ritual ist der Atem Portugals.
    Von der ansteigenden Flut getragen, kommt eine Karavelle langsam herein. Ihre Segel sind nur noch zusammengeflickte Lumpen, ein Wunder, dass ihre Masten noch stehen. Was für einen Krieg hat sie geführt, wer waren ihre Feinde? Etliche Planken sind eingedrückt, ihr Achterkastell gleicht einer Ruine.
    Eine Schaluppe läuft aus, sie hat die Flagge des Königs gehisst. Dann steigt eine dunkle Silhouette aus der Karavelle in die Schaluppe. Diese dunkle Silhouette ist die des Notars.
    Seit Heinrich dem Seefahrer segelt auf jeder Karavelle ein Notar mit. Seine Aufgabe ist es, über die geringsten Vorkommnisse im Verlauf einer Forschungsreise Buch zu führen. Er beschreibt die Entdeckungen bis in die kleinste Einzelheit. Und er verwahrt in einer Börse das aus Afrika mitgebrachte Gold.
    Und nun beobachtet die ganze auf dem Kai versammelte Stadt, wie diese Schaluppe mit ihren acht Ruderern über den Fluss gleitet. Der Notar steht. Nie erfahren die anderen Notare, die bodenständigen, die niemals zur See fahren, einen ähnlich glorreichen Empfang. Jeder weiß, dass der König ihn erwartet.
    Sobald die schwarze Gestalt an Land gegangen ist, richten sich die Augen wieder auf die Karavelle. Nachdem sie jetzt nahe genug herangekommen ist, kann man die Mannschaft erkennen. Siescheint aus Greisen zu bestehen, die Haut von der Sonne gegerbt, das Haar weiß geworden vom Salz oder der Angst. Bestimmt vergeht die Zeit schneller am anderen Ende der Welt. Man wirft die Fangleinen. Endlich hat die Karavelle festgemacht. Die Seemänner schauen in die Menge: Welche unter all den Frauen auf dem Kai ist meine? Und die Frauen mustern die Seemänner: Welcher ist der meine? Wie sollen sie sich auch wiedererkennen, wenn die Männer sechs Jahre lang fort waren?
    Meister Andrea wurde ungeduldig:
    «Himmel, sperrt die Augen auf!»
    Zweien von uns, die flinker waren als die anderen, war es gelungen, auf ein Mauerstück zu klettern, und sie beschrieben die Brücke der Karavelle. Zu ihren Füßen stampfte die versammelte Mannschaft der Werkstatt mit den Füßen.
    «Rote und weiße Stoffe…»
    «Nicht von Interesse für uns. Weiter!»
    «Moment, ich zähle noch, zehn, elf… fünfzehn Schwarze, davon sechs Frauen, keine hübsche darunter, und fünf Kinder.»
    «Was juckt mich das?»
    «Fremde Pflanzen, groß und grün. Sie tragen zwei Arten von riesigen Tannenzapfen, so groß wie ein Männerkopf.»
    «Und weiter?»
    «Ah, noch etwas! Die Seemänner holen jetzt Käfige an Deck. Sieht aus wie Vögel.»
    «Welche Farbe?»
    «Die einen leuchtend grün mit rotem Kopf, die anderen grau mit weißem Kopf.»
    «Und die Schnäbel?»
    «Bei den ersten sind sie grau; bei den zweiten schwarz glänzend und sehr krumm.»
    «Schon besser, schon viel besser! Papageien…»
    Meister Andrea befahl uns, die Papageien nicht aus den Augen zu lassen, bis sie auf dem Markt ankamen, wo sie verkauft werden sollten.
    «Und spitzt die Ohren! Manchmal lassen diese Vögel in einer einfach zu übersetzenden Sprache neben Hinweisen auf das Leben der Wilden auch nützliche Informationen fallen, etwa zur Häufigkeit von Stürmen an diesem oder jenem Kap oder zum Vorkommen von glänzenden Metallen in der Gegend ihres Heimatwaldes.»
    Leider hatten andere Meister der Kartographie denselben Einfall gehabt. Und so mussten wir, um zu den Papageien zu gelangen, bis zum Abend die Fäuste
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