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Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Titel: Cristóbal: oder Die Reise nach Indien
Autoren: Erik Orsenna
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Portugal beinahe nach Genua zurückgekehrt. Ich war zu der Überzeugung gelangt, dass der Atlantik ein zu großes, zu offenes Meer für mich war. Warum, warum bloß, fragte ich mich Nacht für Nacht, wenn ich, die Arme um die Knie geschlungen, auf meinem Strohlager saß, warum hatte ich mein Mittelmeer verlassen, dessen Natur einem See glich und mir doch so viel besser lag?
    Das Hervorstechende bei mir waren auch nicht die ewigen unzüchtigen Gedanken, die mich mein Leben lang beschäftigen sollten, selbst heute, da das Ende naht und der kleinste Anflug einer geilen Träumerei des schrecklichen Klimas wegen an meinen Kräften zehrt. Für einen jungen Mann von sechzehn Jahren, denn so alt war ich damals, ist die obsessive Beschäftigung mit dem Beischlaf nichts Besonderes.
    Als ich nach Lissabon kam, lag meine Haupteigenschaft woanders, sie lag in der
Unwissenheit,
einer Unwissenheit, die nichts mit dem Mangel an Kenntnissen zu tun hatte, der zu Beginn des Lebens natürlich ist. Es war eine gewollte Unwissenheit. Eine
beigebrachte Unwissenheit,
auch wenn die Verbindung dieser beiden Wörter völlig unangemessen erscheint.
    Logisch betrachtet, bringt man jemandem Wissen bei. Wie kann man Nichtwissen lehren?
    Susanna, unsere Mutter, hatte dieses Paradox auf den Weg gebracht. Tiefgläubig hatte sie für ihre Kinder nur ein Ziel: sie fest in der Liebe zu Gott zu verankern.
    Wozu die Zeit mit menschlichen Grübeleien verschwenden, wenn es einzig vom göttlichen Willen abhängt, ob man in den Himmel kommt?, pflegte sie zu sagen. Und folglich hatte sie dafür gesorgt – Weiberschlichen, Erpressung im Bett –, dass wir die schlechteste von allen Schulen Genuas besuchten, eine Schule, die sich vor allem um Unwissenheit kümmerte. Und so sah die Erziehung aus, die wir, Bartolomeo (ich), mein älterer Bruder Cristóbal und mein jüngerer Bruder Giacomo bekamen.
    Einmal entrollte unser Lehrer, ein alter Priester, ein Pergament und heftete es an die Wand.
    «Das ist unsere Erde, gelobt sei Gott, der Herr!»
    Wir lobten ihn im Chor.
    «Der Kreis stellt die bewohnte Welt dar. Sie wird von einem Ozean in Form eines Ts in drei Teile geteilt.»
     

    «Warum steht Asien über den anderen Kontinenten?», wollte einer von uns wissen.
    «Das ist eine bewusste Entscheidung, meine Kinder, eine Entscheidung, wie die Logik sie fordert. So werden Karten von allen vernünftigen Geographen . Asien befindet sich im Osten, stimmt’s? Und Jerusalem? Wer kann mir sagen, wohin Gott Jerusalem gelegt hat? Dorthin, wo der Osten beginnt. Sehrgut. Aber ihr würdet es trotzdem nicht gerne sehen, wenn ein anderer Teil der Erde über der Heiligen Stadt stünde?»
    Beifall klatschend folgten wir seiner Beweisführung. Wie war es möglich gewesen, dass wir so lange nicht geahnt hatten, dass «ausrichten» bedeutete, den Osten über alles zu stellen? Ich hob den Finger:
    «Und warum gibt es nur drei Kontinente?»
    «Du hast die Bibel nicht gründlich gelesen, Bartolomeo. Höre aufmerksam zu, was der hochgelehrte Isidor von Sevilla im Jahre 600 dazu schreibt: Unser Planet wurde zwischen den drei Söhnen Noahs aufgeteilt. Sem erhielt Asien, das seinen Namen von Prinzessin Asia bekam, die von ihm abstammte, Asien wird von siebenundzwanzig Völkern bewohnt. Cham erhielt Afrika: Dort gibt es dreißig Rassen und dreihundertsechzig Städte. Japhet bekam Europa mit seinen fünfzehn Stämmen und einhundertzwanzig Städten.»
    «Bloß einhundertzwanzig? Mein Vater hat gesagt, allein auf seiner Reise nach Rom sei er durch siebzehn große und zudem sehr schöne Städte gekommen.»
    Die lebhafte Erinnerung an diese Schulstunde verdanke ich nicht meinem Gedächtnis, sondern meinem Hinterteil: Es erhielt eine ordentliche Tracht Prügel mit der Rute. Wie hatte ich es wagen können, die heiligen Wahrheiten dieses Isidor anzuzweifeln!
    Das saß, und so hielt ich, noch immer mit schmerzendem Hinterteil, in der folgenden Unterrichtsstunde meinen Mund.
    «Wisst ihr, meine Kinder, was die Heiden glauben?»
    Wir schüttelten energisch den Kopf und bekreuzigten uns. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen!
    «Sie glauben, zumindest wenn es ihnen an Intelligenz mangelt, es gäbe Lebewesen, die unsere Antipoden sind.»
    Wir brachen in schallendes Gelächter aus: Oh, diese Verrückten! Diese Dummköpfe! Diese Unwissenden!
    Der Priester betrachtete seine Klasse voller Zufriedenheit.
    «Ihr seid gute Kinder. Aber wisst ihr auch, was
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