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Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Titel: Cristóbal: oder Die Reise nach Indien
Autoren: Erik Orsenna
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Welt mit parallelen Linien einzukreisen, von denen die einen horizontal, die anderen vertikal verliefen. Auf diese Weise konnte jeder Punkt auf der Erdkugel einem Quadrat zugeordnet und aufgefunden werden.»
    «Einst lebte auf Mallorca der Jude Abraham Cresques, der gegen 1375 den Katalanischen Atlas zeichnete, ein Meisterwerk, vor dem wir uns alle verneigen.»
    Nie wollte Andrea auf unsere Warnungen hören: Wie sollten wir unsere Geheimnisse bewahren, wenn eine Menschenmenge in die Werkstatt strömte?
    Und was die Kirche anging: Wer bildete sich schon ein, dass sie diese Zusammenkünfte lange tolerieren würde?
    Besonders da Andrea häufig auf eine «Legenda aurea der Geographen» verwies. Die echte
Legenda aurea
war der Bericht über das Leben der Heiligen. Wie hätte es die Kirche hinnehmen können, dass ein angeblich frommer Mann überall behauptete, ein Kartograph sei einem Heiligen ebenbürtig?
    Das Drama zeichnete sich bereits ab, und mit jedem Tag rückte es näher.
     

    Achtung, verehrter Las Casas!
    Meine Lebensbeichte wird für Euch keine Vergnügungsreise sein, wie Ihr eine erwartet: Ich werde mich meiner Verfehlungen bezichtigen, Ihr werdet mich verdammen und dann, im Namen Gottes, von der Sünde freisprechen.
    Eines ist sicher, der Bericht meines Lebens wird nicht lange brauchen, bis er in dunkle Bezirke vordringt. Bald werde ich gestehen müssen, was nicht zu gestehen ist. Und Ihr werdet leichtes Spiel haben, mir strenge Bußen aufzuerlegen.
    Doch zuvor müsst Ihr auf den Rost. Ich habe dem Dominikaner, der Ihr seid, eine Frage zu stellen. Beanspruchen die Dominikaner nicht, der um Logik und Wissen am meisten besorgte Orden der Christenheit zu sein? Schon vor zweitausend Jahrenhaben die Griechen geahnt und schließlich bewiesen, dass die Erde rund ist. Warum wollte das Christentum glauben, warum hat es uns alle gezwungen zu glauben, sie sei flach? Warum dieser Hass auf das Wissen bei den Priestern?
    Ich beginne, meinen Beichtvater zu durchschauen.
    Wenn ihn etwas an meinen Aussagen stört, sieht er mich mit einem halb erschöpften, halb nachsichtigen Lächeln an, diesem unerträglichen Lächeln Erwachsener, wenn sie sich Kindern zuwenden, diesem Lächeln, das bedeutet: Sprich nur weiter, ich weiß etwas, das ich dir nicht erklären kann. Du bist zu jung, später wirst du es einmal verstehen.
    Vielleicht töte ich Las Casas eines Tages für dieses Lächeln?
    Bis dahin erfreue ich mich an seinem Unbehagen.
    Ich verdanke ihm eine vollkommene Nachtruhe.

 
     
     
     
    Hühner, Lämmer, Kälber, Kaninchen, Fische, Schnepfen… Als ich den Beruf ergriff, wusste ich nicht, wie viel wir Kartographen unseren tierischen Brüdern und Schwestern verdanken. Da ich als Letzter dazugestoßen war, vertraute man mir die Aufgabe an, mich um das Kleinvieh zu kümmern.
    Beginnen wir mit den Hühnern.
    Keine Sorge, ich werde mich nicht über die Dutzenden von Mixturen auslassen, die Maler und Kartographen benutzen, um ihre Farben zu binden, zu verdünnen und zu trocknen. Die Herstellung dieser Mixturen grenzt an Alchemie, der ich mich nie wirklich gewidmet habe. Ohnedies habe ich noch so viele Geschichten zu erzählen, so viele Welten, mit denen ich Euch bekannt machen will.
    Ich deute lediglich an, ich fasse zusammen. Ihr sollt nur wissen, dass hinsichtlich der Bindung von mineralischen oder pflanzlichen Farbpigmenten nichts dem Ei gleichkommt, weder dem ganzen noch einem seiner Bestandteile, dem Eiweiß oder dem Eidotter.
    Deshalb konnte man mich regelmäßig in den Hühnerställen finden.
    Es oblag außerdem dem Unschuldslamm, das ich damals beinahe noch war, Kälber und Lämmer bis zum Erröten ausgiebig am Bauch zu streicheln, um dann das Tier auszuwählen, dessen Haut die besten Voraussetzungen besaß, eine Karte von Afrika aufzunehmen. Der weitere Verlauf der Mission geschah ohnemeine Billigung, denn nun musste das Tier getötet werden, dessen zarteste Körperteile ich kurz zuvor noch gestreichelt hatte, und der Auftrag verwandelte sich in einen Albtraum, wenn ich die frisch abgezogene Haut zum Gerber bringen und zuschauen musste, welchen Behandlungen sie unterzogen wurde, die zudem einen außerordentlichen Gestank verbreiteten.
    Apropos Gerüche, da fällt mir die beißende Luft ein, die die Werkstatt jeden Morgen erfüllte.
    Da sich der menschliche Urin offenbar besonders gut zum Verdünnen eignet, waren diejenigen unter uns, die am Vorabend nicht allzu sehr dem Alkohol zugesprochen hatten, aufgefordert, am
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