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Corvidæ

Corvidæ

Titel: Corvidæ
Autoren: Simone Keil
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nach oben stieg, sich um die Sparren kräuselte und Federwolken bildete. Von den Wänden tropfte der Putz, gab die nackten Ziegelsteine frei.
    Die Flammen züngelten an ihren Rocksäumen. Elisabeth zog die Beine an. Nein. Irinas Hand auf ihrer Wange, strich die Tränen von der Haut und sie schloss die Augen.
    Etienne riss die Tür auf, drückte ein Taschentuch auf seinen Mund. Dichter beißender Rauch, knisternde Flammen.
    Irina spürte ihn, bevor sie die Umrisse seines Körpers erkannte; schemenhaft, verschwimmend im Dunst. Sie gab ihrer Mutter einen Kuss auf die heiße Wange. Und dann riss er sie aus ihren Armen und sie zitterte. Kalte Hitze.
    Der Boden wellte sich, flimmernde Luft. Farbloses Feuer. Immer kälter und kälter. Immer weiter hinein ins blendende Weiß.
    Vorsichtig legte er Elisabeths Körper neben dem Blumenbeet ab, auf dem nur noch gelber Efeu rankte. Die Blätter an den gräulichen Boden gedrängt. Elisabeths Puls war schwach, aber er war vorhanden.
    Krachend schlug die Tür zu. Er stolperte zum Eingang, rüttelte an der Klinke. Tränen vermischten sich mit dem Schweiß auf seinen Wangen. Und dann meinte er ein Lachen zu hören und sank auf die Knie. Krallte die Finger in den schmutzigen Boden.
    „Bleib“, Marie packte Chloés Handgelenk. „Du kannst nichts für ihn tun.“ Sie schlürfte ihren Tee, während die Balken der Veranda zersplitterten, unendlich langsam durch die Luft wirbelten und verschwanden, genau wie die Farbe aus ihren Kleidern.
    Chloé drückte ihr Gesicht in die Halsbeuge der Alten. Schneeweißes rotes Haar. Fahle Haut. Keine Kraft für Tränen.

    E s war nicht still, wie ich erwartet hatte. Es war nicht kalt, es war nicht warm. Es war, als käme ich an, nach einer endlos langen Reise. Als käme ich zu mir. Nach Jahren in undurchschaubarer, schemenhafter, empfindungsloser Bewusstlosigkeit. Ich vergaß zu atmen und wunderte mich, dass ich überhaupt hatte atmen können. Bevor ich eingetaucht war. Eingetaucht in sie. Und sie war überall. Um mich, in mir. Unermesslich.
    Und dann formten sich die Farben zu Bedeutungen, die Töne zu Inhalten. Erinnerungen, Wirklichkeiten. Ahnungen. Fragen. Und Antworten, zu denen keine Fragen existierten. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Mögliche Versionen einer Zukunft.
    Mein Herz hatte aufgehört zu schlagen. Und das brauchte es auch nicht. Nicht mehr. Ihr Herz schlug für uns beide.
    Der silberne Strudel. Fetzen von mir wirbelten im Uhrzeigersinn. Bilder und Bilder. Mondlicht und lebendige Schwärze und ein Rabe, der sich auf die Maus hinabstürzt. Kühlen Wind im Gefieder. Und dann sprach sie meinen Namen aus. Schickte jeden Buchstaben einzeln durch meine Venen; die Herzkammern. Ich spannte meine Muskeln an und riss Luft in meine Lungen. Herzschlag. Vertrautes Pochen. Ich konnte nicht anders, als zu lachen. Zu weinen. Und zu spüren, dass ich lebe.
    Ich griff nach Voraks Handgelenk und meine Finger glitten durch seine Haut, Fleisch und Knochen. Er tippte sich an die Stirn und ich las ein „Bis Bald“ von seinen Lippen ab. Dann verschwamm er. Die Strömung packte mich, riss mich ins Zentrum des Strudels. Tiefer und tiefer hinab, bis in vorzeitliche Dunkelheit. Dahin, wo alles begann. Anfang und Ende. Und immer ist es dunkel. Genau wir Rokan gesagt hatte. Samtweiche Dunkelheit. Mit Händen aus schwarzem Holz und dem Geruch nach frischen Flammen.
    „Endlich“, sagte sie u nd ich sagte: „Endlich“, und spürte ihr Lachen, bevor ich es hörte. „Aber es war ein weiter Weg, um Dunkelheit zu finden.“
    „Dunkelheit.“ Ein Quietschen, wie von Rädern, die sich auf der Stelle drehen. „Hast du etwas anderes erwartet?“
    „Nein“, sagte ich. „Es hätte nicht anders sein können. Aber ich würde gerne deine Augen sehen.“
    „Dann schalte das Licht ein.“
    Ich schüttelte den Kopf.
    „Kopfschütteln“, sagte sie, „ist eine sinnlose Geste in der Dunkelheit.“
    „Nichts ist sinnlos, das weißt du doch.“
    Wieder lachte sie und es klang wie Eistee auf der Veranda, Kürbiskuchen und ineinander verschränkte Finger.
    „Ja “ , sagte sie. „Sommer.“
    „Ich kann mich erinnern“, sagte ich. „An viele Sommer und Winter. An dein rotes Kleid mit den Perlmuttknöpfen; wie sie ihre Farbe veränderten und im Sonnenlicht funkelten. Du mochtest es, wenn die Dinge in anderem Licht anders schienen, als sie es waren.“
    „Und ich mag es immer noch.“
    „Ja“, sagte ich und tastete nach ihrer Hand; schloss meine Finger um ihre.
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