Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Corvidæ

Corvidæ

Titel: Corvidæ
Autoren: Simone Keil
Vom Netzwerk:
Summen, sang ein Lied das keine Worte hatte, presste mein Herz zwischen zusammenhanglosen Silben zusammen.
    Vorak schüttelte langsam den Kopf. „Auch die Menschen und Baumgeister verblassten, wie Farbe mit zu viel Wasser verdünnt“, sagte er. „Aber ihre Seelen haben den Weg über die Steinerne Brücke nicht angetreten, ich kann sie noch spüren.“
    „ Genau w ie in den Büchern“, sagte ich. „Ausradiert. Leeres Papier. Aber was sollen wir dagegen unternehmen?“
    „Ich weiß es nicht“, antwortete er. „Aber wenn wir keine Lösung finden, gerät alles in Vergessenheit. So als wäre es niemals dagewesen. Wo sollten die Seelen einen Platz finden, nicht tot und doch nicht lebendig? Das wäre schlimmer als der Tod.“
    Unter der Wasseroberfläche konnte ich Strudel erkennen, die tief unten brodelten. Und eine Lichtquelle, wie schimmerndes flüssiges Silber. „Man muss den Problemen auf den Grund gehen, wenn man ihre wahre Natur erkennen will. Das sagte Großmutter Rose immer.“
    „Bei uns sagt man: Wer klares Wasser finden will, muss auf den höchsten Gipfel steigen, oder tief unter die Mutter Eiches Wurzeln graben.“ Er lächelte. „Ich bin überrascht. Euer Volk scheint einige durchaus intelligente Vertreter zu haben.“
    Ich knuffte ihn in die Schulter und deutete auf den See. „Was meinst du?“
    Dicht über unseren Köpfen flatterten Farbklekse, ihre ausgebreiteten Schwingen berührten fast meinen Kopf. Ich spürte den Luftzug auf der Haut.
    Vorak tauchte die Finger ins Wasser. „Die Temperatur ist angenehm“, sagte er. „Kannst du schwimmen?“
    „Wie ein Fisch!“

    „ E s beginnt.“ Marie legte ihr Strickzeug beiseite, erhob sich ächzend aus dem Stuhl und stützte sich auf das Geländer ihrer Veranda; zog das Schultertuch enger um ihren Körper. Sie deutete auf das Kirchendach, in dem ein unförmiges Loch zu sehen war, aus dem ein Rauchfaden in den blauen Himmel stieg. Einige Ziegel lösten sich aus dem Verbund, fielen, verblassten und verschwanden, bevor sie auf dem Boden aufschlugen. „Mach uns einen Tee, Chloé. Mir wäre jetzt nach einem starken Gebräu mit einem kräftigen Schuss Weinbrand.“
    Die Wirtin nickte. „Ich habe Angst“, sagte sie. „Sollten wir nicht doch versuchen …“
    „Nein.“ Die Alte nahm ein Wollknäuel aus dem Korb zu ihren Füßen und zupfte gedankenverloren an dem braunen Garn. „Viel zu lange schon verheddern wir uns in losen Fäden. Es ist Zeit, dass sie sich verknüpfen.“
    „Sie sind in der Kapelle, Elisabeth und das Kind. Es widerholt sich.“
    Marie nahm Chloés Hand. „Zum letzen Mal“, sagte sie. „Zum letzten Mal…“
    „Ihr steht einfach da und seht zu?“ Etiennes Stimme brach. Er kam auf die Veranda zu und schlug mit der Faust an das Geländer; funkelte die beiden Frauen zornig an.
    „Sie handeln nach ihrem freien Willen, Cavalier.“ Marie warf das Garn zurück in den Korb. „Misch dich nicht ein. Lass sie den Weg zu Ende gehen, den sie eingeschlagen haben.“
    „Du willst sie in den Tod gehen lassen?“, schnaubte er. „Einfach so?“
    Chloé schluchzte und Marie legte ihr die Hand auf die Schulter. „Was bedeutet schon der Tod?“, sagte sie. „Nicht mehr und nicht weniger als das Leben.“
    „Für dich mag das so sein, alte Frau, aber ich kann das nicht hinnehmen. Nicht ohne zu kämpfen.“
    „Dann geh, Etienne. Es spielt ohnehin keine Rolle. Das Ende steht fest.“
    Er drückte Chloés Hand, die auf der Brüstung lag, nickte Marie zu, und ging. Hinüber zur Kirche, deren Dach nun fast vollständig verschwunden war. Aus den Fensterritzen drang Rauch und an den Rahmen leckten die Flammen wie Ziegen an salzigem Gestein.
    Sie hielten sich in den Armen. Elisabeth lehnte an dem steinernen Altar, die Nase in Irinas Haaren versunken; atmete ein und aus. Warum?
    Es ist falsch. Ihre Seele kann nicht fliegen, solange sie sich an mich bindet. Und sie muss fliegen.
    Dann nimm mich mit.
    Nein. Die Flammen tanzten in Irinas Händen, als wirbelte ein Taschenspieler einen Taler zwischen seinen Fingern hindurch.
    Aber du bist nicht sie!
    Ich bin du und sie und alle. Aber ich bin nicht ich.
    Für mich bist du das.
    Ich weiß. Irina strich mit den Fingerspitzen über den Unterarm ihrer Mutter. Es roch nach versengtem Haar. Gerötete Haut und ein Lächeln auf ihren Gesichtern.
    Ich werde nicht gehen.
    Du musst.
    Über ihren Köpfen schimmerte der Himmel milchig blau durch das offene Dach. Ein Rabe umkreiste die Rauchfahne, die geradewegs
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher