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Corvidæ

Corvidæ

Titel: Corvidæ
Autoren: Simone Keil
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dicht zu sich heran. „Weil du sonst nie, niemals wieder irgendein verfluchtes Dokument ausstellen wirst. Sie wird dich dahin zurück schicken, wo du hergekommen bist. Zurück auf dein Feld voller Kohlköpfe, wo dich die Raben zum Frühstück verspeisen werden. Deshalb!“
    Ich hörte die Schnecke schlucken. „Braucht ihr ein Boot?“, keuchte sie. „Oder seid ihr mobil?“
    Vorak ließ das Halstuch los und wischte sich die Hand an seinem Overall ab. „Wir nehmen ein Boot, Verehrteste. Innigsten Dank.“
    Keine fünfzehn Minuten später saßen wir in einem Kanu und trieben durch einen engen Kanal.
    „Das nennst du also Fingerspitzengefühl“, sagte ich.
    Vorak zuckte mit den Schultern und deutete auf seinen Gehörschutz, also schüttelte ich nur den Kopf. Nach zwei Biegungen wurde das Gefälle steiler und wir rutschten in einen See, dessen Wasser so klar war, dass es schien, als glitten wir auf einem Spiegel dahin. Vorak nahm den Kopfhörer ab und ich tat es ihm nach. Stille. Dann ein Summen, das wie Echos von den Wänden hallte, abebbte, zu einem Kanon anschwoll, in dem sich Stimmen und Klänge zu einem einzigen wundervollen Ton vereinigten, der mir Tränen in die Augen trieb. Um uns herum schwirrten Farben, bildeten Blasen, Striche, sanfte Formen, mischten sich zu neuen Farben und trennten sich wieder; glitten an den welligen Wänden der Höhle hinab und flossen hinauf, bis zum höchsten Punkt des kuppelförmigen Höhlendachs; regneten bunt und schimmernd auf uns herunter, ohne uns zu erreichen.
    „Wunderschön“, flüsterte ich. „Wo sind wir hier?“
    „Das ist das Zentrum“, sagte Vorak. „Wie nennen es Jähnseits. Ihr würdet es wohl als Steuerzentrale bezeichnen.“
    „Eine Steuerzentrale?“ Ich sah zu, wie blaue und gelbe Blitze ins Wasser schlugen. Die Oberfläche bewegte sich nicht, verfärbte sich nur kurz. Die Farben prallten an ihr ab und zersplitterten in grüne Tropfen. „Die Steuerzentrale von was?“
    In Voraks Augen schimmerten die Farbsplitter und erloschen mit einem Wimpernschlag. „Von Allem“, flüsterte er. „Von Allem was noch übrig ist.“
    Ich nahm seine Hand, die auf dem Bootsrand lag. „Ich verstehe das nicht“, sagte ich. „Was meinst du denn? Die Welt? Aber sie ist doch … Das Mädchen hat nicht überlebt. Trotz allem? Aber das kann doch nicht …“ Ich schluckte. Die Farben waren plötzlich zu grell, schmerzten in meinen Augen. Und der eben noch so beruhigende Ton klang wie ein Aufschrei, hart und endgültig.
    Voraks Blicke wanderten rastlos durch die Höhle. „Meine Vatereiche brannte wie Zunder“, sagte er. „Ich spürte den Schmerz meiner Väter, als die Äste brachen und ihre Seelen heimatlos wurden. Genau wie ich.“ Er zog seine Hand aus meiner und wischte sich über die Augen.
    „Aber wie konnte das denn passieren?“
    „Die Frau mit dem rotem Haar“, sagte er. „Sie hat gemalt. Die Bilder waren so …“ Er hob in einer hilflosen Geste die Hände. „Und dann hat es angefangen. Die Blätter fielen von den Bäumen, als durchliefe die Natur den Herbst an einem einzigen Tag. Und dann fielen die Bäume und alles zerbröckelte wie trockene Erde.“
    „Agnès? Aber sie würde doch nichts zerstören.“ Ich dachte an das Mädchen, die Uhr, das Schiff, das langsam aber stetig verfiel und schwieg.
    „Sie hat ihre Hütte nicht mehr verlassen“, fuhr er fort. „Und dann, in der Nacht, hat sie ihre Farben ausgegossen und die Bilder, die sich bereits kniehoch in der Hütte stapelten angezündet. Und mit ihnen den Wald und alles was in ihm lebte.“
    Ich schluchzte auf. Das konnte sie nicht getan haben. Ich konnte das nicht glauben. Und ich hatte ihr das Feuerzeug gegeben! „Das ist alles meine Schuld“, sagte ich.
    „Nein, niemand trägt Schuld.“ Die Töne umschwirrten uns wie Bienenschwärme und Vorak hob die Stimme. „Die Fäden werden im Jähnseits gesponnen, wir können versuchen sie zu entwirren, zu verstehen was sie bedeuten, aber wir können ihre Existenz nicht ändern. Es sollte so sein.“
    „Was ist mit eurem Dorf geschehen“, fragte ich, „und mit den Bewohnern?“
    „Das Feuer breitete sich aus, doch es hinterließ keine Asche, keine verkohlten Baumstümpfe, die Flammen löschten alles aus. Zurück blieb nur schmerzendes Weiß. Leere. Kein Zufluchtsort. Bevor alles verschwunden war, wurde ich durch den Riss geschickt um dir zu helfen.“
    „Also sind sie alle tot? Und die Welt ist nicht mehr da?“ Jetzt überlagerte eine Stimme das
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