Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Corvidæ

Corvidæ

Titel: Corvidæ
Autoren: Simone Keil
Vom Netzwerk:
Gestalt an. Er zitterte.
    „Ist alles in Ordnung, Jacques?“
    „Nein!“ Er zupfte sich eine schwarze Feder aus den Haaren, strich sich damit über den Unterarm. „Ich bin Jakur. Rokan hatte recht, ich hätte es nicht vergessen dürfen.“ Seine Hände zitterten immer noch, als er mir die Feder reichte. „Lass mich, ich will das alles nicht durch menschliche Augen sehen. Ich kann nicht, verstehst du?“
    Nur zu gerne hätte ich die Möglichkeit gehabt das Gesehene zu vergessen. Irgendwo anders zu sein und jemand anderer. Bevor ich etwas sagen konnte, zog sein Körper sich zusammen, schrumpfte. Er schüttelte sich, drückte seinen weichen Kopf an meinen Arm und ich nickte nur.
    Die Papierströme schienen unendlich zu sein, ich griff mir einen Blätterstrang heraus und betrachtete die feinen Linien darauf. Ich hatte Schriftzeichen erwartet, aber das waren Bilder. Ungelenk und mechanisch von der Maschine auf die Bögen gebannt.
    „Oh, nein“, flüsterte ich und riss mehr Papier an mich, grub mich durch die Blätter. Das Schiff, Menschen, Pan mit seinen Ziegenbeinen. Ich wühlte tiefer und tiefer. Wald, Vögel, ein Troll, Türen, und eine davon war mit einem fetten X gekennzeichnet. Das war meine Geschichte. Sogar das Riesenrad, die Geisterbahn, Großmutters Haus, das Dorf. Eine Frau und ein Baby. Was bedeutete das? Mein Herz schlug so schnell, dass ich fürchtete, ich würde wieder ohnmächtig werden. Zitternd riss ich ein Blatt heraus. Eine Frau vor einer Staffelei. Auf der Leinwand das Mädchen, gefesselt und benutzt von diesem Irren, der ihr Vater war.
    Der Doktor räusperte sich und nahm mir die Papiere aus der Hand, warf sie zurück auf den überfüllten Fußboden und ich sah sie inmitten der neuen und alten Bilder untergehen.
    „Ich arbeite seit“, sie stockte kurz, „langer Zeit an diesem Projekt. Das Leben des Kindes hängt an einem seidenen Faden. Meine medizinischen Möglichkeiten sind erschöpft.“ Sie schob die Hände tief in die Kitteltaschen. „Sie wird sterben.“
    Die Finger des Mädchens krampften sich zu Fäusten zusammen. Ihre Gesichtszüge starr und leblos, die Augen geschlossen. Hinter den Lidern bewegten sich die Augäpfel als träumte sie.
    In meinem Kopf begann es zu pochen, ich massierte mir die Schläfen. „Was meinte der Uhrmacher damit, als er fragte, ob ich bereit sei zu teilen?“
    Der Doktor wich meinem Blick aus, ich konnte sehen, wie ihre Kieferknochen arbeiteten. „Nun ja“, sagte sie. „Wir haben eine Möglichkeit gefunden, das Leben des Mädchens zu verlängern, indem wir ihren Organismus mit dem des Raben verbunden haben, aber ihre und auch seine Organe versagen nun. Aber wenn wir …“
    „Moment!“ Ich sprang von der Liege. „Des Raben? Sie haben das Mädchen mit dem Raben verbunden? Und was ist mit diesem Ding?“ Ich deutete auf die Standuhr, durch deren Ziffernblatt ich nun feine Äderchen schimmern sah. „Was sind Sie nur für ein Mensch?“, flüsterte ich.
    Der Doktor rieb sich die Augen. Sie sah müde aus. „Ich kann verstehen, dass Sie so denken, Catrin. Darf ich Sie Catrin nennen?“ Ohne meine Antwort abzuwarten fuhr sie fort. „Es geht hier nicht nur um das Mädchen und dieses Tier. Oder um Sie und mich, den Vater oder dieses Schiff. Wenn es nur das wäre … Die Sachverhalte sind komplexer und vielschichtiger.“
    „Sie haben kein Recht ein Lebewesen so zu quälen, aus welchen Gründen auch immer“, sagte ich und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich scheiße auf Ihre Erklärungsversuche. Was Sie hier tun ist unmenschlich. Irrsinnig! Sie sind total verrückt!“ Ich machte einen Schritt auf das Mädchen zu, doch der Doktor hielt mich am Arm fest.
    „Ich wünschte, Sie hätten recht“, sagte sie. „Ich wünschte, ich wäre verrückt. Aber wenn wir das Mädchen nicht retten, dann sind wir alle verloren.“ Sie hob abwehrend die Hände, als ich etwas erwidern wollte. „Ich bin Wissenschaftlerin“, fuhr sie fort, „und ich kann Ihnen nicht auf rationaler Ebene erklären, was hier vor sich geht, aber wenn wir dieses Kind nicht retten, dann ist die Welt, wie wir sie kannten, schon bald nicht mehr da. Sie sind durch einen dieser Risse hierher gelangt, nicht wahr? Genau wie ich und alle anderen auf diesem Schiff. Diese Risse sind real, sie breiten sich aus und sie werden alles verschlucken. Nur dieses Mädchen hält die Realität noch zusammen. Wenn sie stirbt, stirbt alles.“
    „Es sind die Bilder“, sagte ich. „Die Bilder zeichnen die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher