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Corvidæ

Corvidæ

Titel: Corvidæ
Autoren: Simone Keil
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„Was wird jetzt?“
    „Alles“, sagte sie. „Alles.“
    „Aber die Seiten sind leer. Es ist nichts geblieben.“
    „Alles entsteht aus Nichts“, flüsterte sie. „Alles ist Nichts und Nichts ist Alles .“
    Ich schaltete das Licht ein und lächelte. Weiße Strähnen durchzogen das Kupfer ihrer Haare und ihre Augen glühten wie der Atlantik, kurz bevor die Sonne im Wasser erlischt. Ich fuhr die Falten auf ihrer Stirn mit den Fingerspitzen nach, küsste ihren Mundwinkel. Auf der Staffelei neben ihr stand das Bild, das ich schon auf dem Heuboden gesehen hatte. Vor einigen Wochen. Oder waren es Jahre gewesen? „Du hast gemalt“, sagte ich, betrachtete mein altes Gesicht, das ergraute Haar, die feinen Pinselstriche, die lebendigen Farben.
    „ Ja “, sagte sie. „ Aber es ist bald Morgen und i ch würde gerne einen Sonnenaufgang sehen, hören wie die Vögel erwachen.“
    „Und das Seufzen der Bäume, wenn die ersten warmen Strahlen über ihre Kronen streichen.“
    „Schieb mich zum Schreibtisch“, sagte sie. „Setz dich neben mich und öffne die oberste Schublade .“
    „Sie ist verschlossen“, sagte ich und nahm den Schlüssel von meinem Hals, „aber du hast wirklich an alles gedacht.“ Ich nahm das schwarze Tagebuch heraus und legte es auf die dunkle Holzplatte des Tisches. Mit zitternden Fingern strich ich über den rissigen, schmutzigen Einband; roch den Duft des brüch igen Papiers, blätterte durch die Seiten. Leer. Allesamt leer.
    „Schreib das Ende“, sagte sie. „Schreib es endlich.“
    Jetzt war ich es, die lachte. „Endlich“, sagte ich . „Aber ich werde nicht das Ende schreiben.“
    „Ich weiß“, sagte sie und ich tauchte die Feder in die violette Tinte.

Epilog

    20. Juni
    J eder Tag ist wie der erste Tag. Jeder Ton ist einzigartig, jede Farbe scheint neu. Unglaublich, wie viele Nuancen Rot haben kann, wie viele Schattierungen Grün. Grenzenlose Möglichkeiten. Mir scheint, ich hätte noch niemals den Gesang einer Amsel gehört, noch nie gesehen, wie Berggipfel glühen, entflammt vom Feuer der Sterne.
    Irina ist groß geworden, fast schon eine Frau. Und Lizzie ist so stolz auf sie. Rokan und Jakur zeigen ihr die Grenzenlosigkeit des Himmels und jeden Tag wagt sie sich ein Stückchen höher hinaus.
    Chloé hat ein neues Gasthaus eröffnet. Wenn der Wind von Westen weht, kann ich sie singen hören, und sie singt meist, in diesen Tagen.
    Das Fest der Sommersonnenwende steht bevor. Ich kann es kaum erwarten, unsere Freunde wieder zu sehen. Selbst Vorak, der sich immer noch über meinen Geisteszustand lustig macht. Lizzie kann ihn nicht leiden, aber sie hat endlich eingesehen, dass Baumgeister real sind. So real wie sie und ich und die Welt in der wir leben.
    Die Zeit rast dahin wie ein begradigter Strom und steht doch still wie ein Weiher. Und was bedeutet schon Zeit? Was bedeuten Minuten, wenn ein einziger Kuss Lichtjahre zu Sekunden wandelt? Nichts und Alles.
    Großmutter hat versucht meine Augen offen zu halten für all die wunderbaren Dinge , die man sehen kann, wenn man auch sein Herz ein wenig öffnet, und dafür bin ich ihr dankbar. Und ich bin froh, dass wir uns entschieden haben in ihrem Haus zu leben. In dem Haus, wo alles begann.
    Der Pinsel berührt die Leinwand und Du versinkst in Deinen Bildern, so wie ich in Dir versunken bin . Endloser Frühling. Erwachen und entstehen. Ich wünschte, ich könnte den Duft von blauen Rosen riechen, sage ich und Du lachst und ich stutze die Büsche und drücke meine Nase in die faustgroßen Blüten.
    Am Abend streue ich Blütenblätter auf den Boden und wir schlafen inmitten des Ozeans. Ich liebe dich, sage ich dann und Du sagst: Ich weiß.
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